Tod im Pfarrhaus
Christus.
»Ja. Meine Schwester.«
»Woher in Norrland kommen Sie?«
»Aus Vilhelmina. Obwohl wir einige Male umgezogen sind. Vater war Prediger.«
»Prediger? Bei der Pfingstgemeinde oder bei einer anderen Freikirche?«
»Er … wir waren Laestadianer.«
Irene hatte eine undeutliche Erinnerung an den Religionsunterricht, irgendwas mit einer ekstatisch- religiösen Bewegung, die im 19. Jahrhundert in Norrland gegründet worden war. Waren das nicht die, die keine Vorhänge haben durften? Bei Kristina hingen hübsche weiße Stores vor den Fenstern.
»Sie sagen, ›waren Laestadianer‹. Sind Sie das nicht mehr?«
»Nein. Meine große Schwester verließ die Gemeinde und trat der Staatskirche bei. Sie ist Pfarrerin und arbeitet hier.«
»Sind Sie deswegen nach Karlstad gezogen?«
Kristina zögerte und nickte dann energisch.
»Heißt sie auch Olsson?«
»Ja. Kerstin Olsson. Sie hat nie geheiratet.«
»Wohnen Ihre Eltern noch in Norrland?«
»Vater ist tot. Mutter wohnt ganz in der Nähe unseres Bruders bei Vitangi.«
»Haben Sie noch weitere Geschwister?«
»Nein.«
Irene holte, ohne es selbst zu merken, tief Luft, bevor sie ihre letzte Frage stellte:
»Wer von Ihnen beiden wollte sich scheiden lassen? Sie oder Jacob?«
»Das war ich.«
Kristina sah erneut auf die fest gefalteten Hände in ihrem Schoß.
»Weil er keine Kinder von Ihnen mochte?«, fragte Irene, die sich das noch einmal bestätigen lassen wollte.
Kristina nickte, ohne den Blick zu heben.
Irene hatte das Gefühl, dass es ihr unmöglich war, auf die richtigen Fragen zu kommen. Und auch wenn sie die richtigen Fragen stellte, bekam sie doch nie zufrieden stellende Antworten. Hielt Kristina etwas zurück? Irene wurde nicht schlau aus ihr.
Irene ging zurück Richtung Zentrum. Sie folgte der Beschilderung. Außerdem hatte sie eine gute Orientierung. Die strahlende Frühlingssonne war wunderbar, obwohl sie bereits wieder unterging und nicht sonderlich wärmte. Es war einige Grad kälter als in Göteborg. Hier und da lagen noch schmutzige Schneehaufen herum.
Sie überquerte einen glitzernden Fluss. An seinen Ufern spazierten schnatternde Enten und kreischende Kanadagänse. Wie er hieß, wusste sie nicht. Obwohl Kristers Verwandte in Säffle wohnten und ihre Familie jedes Jahr ein paar Wochen im Sommerhaus ihrer Schwiegereltern bei Sunne verbrachte, war sie höchstens drei Mal in Karlstad gewesen. Eigentlich schade, die Stadt war hübsch, viel Wasser und viele Läden.
Sie schlenderte herum, betrachtete die Schaufenster und merkte plötzlich, wie hungrig sie war. Der Zug ging erst in anderthalb Stunden. Genug Zeit zum Essen.
Vor vielen Jahren hatte sie mit Krister und den Kindern in einem gemütlichen Restaurant am Stora Torget gegessen. Es lag auf derselben Seite des Platzes wie das protzige Rathaus, das wusste sie noch, aber ein Stück weit in einer Seitenstraße. Ihre Erinnerung war vage, aber es gelang ihr, den Källaren Munken, den Mönchskeller, ohne größere Schwierigkeiten zu finden.
Nachdem sie die schwere Tür geöffnet hatte und die ausgetretene Treppe hinuntergegangen war, erkannte sie das Kellerlokal mit seinen engen Durchgängen und Gewölben wieder. Natürlich war es seit ihrem letzten Besuch renoviert worden, aber gemütlich war es noch immer.
Der Oberkellner führte sie zu einem Tisch mit einer weißen Tischdecke. Er empfahl das Tagesgericht, gebratenen Saibling mit kleinen so genannten Mandelkartoffeln und Schnittlauchsauce. Irene beschloss, seinem Rat zu folgen, und bestellte dazu ein Carlsberger Hof. Nach der Begegnung mit Kristina Olsson hatte sie das starke Bedürfnis, ein Bier zu trinken, wenn nicht gar zwei. Das Brot war so frisch, dass die Butter schmolz. Ein Gefühl von Wohlbehagen überkam sie, und sie versuchte, nicht an das eben geführte Gespräch zu denken. Auf der Bahnfahrt war noch Zeit genug.
War Kristina Olsson psychisch krank? Die Antwort lautete vermutlich Nein. Sie schien allerdings einem Nervenzusammenbruch gefährlich nahe zu sein. Wenn sie nicht schon einen hinter sich hatte. Das war für sie als Laie nur schwer zu entscheiden.
Hielt sie etwas zurück?
Die Frage stellte sich erneut. Irene war immer mehr davon überzeugt, dass das der Fall war. Aber was? Und wieso? Wovor hatte sie solche Angst?
Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Kristina zu fragen, ob sie bedroht worden sei. Wie hatte sie eine so nahe liegende Frage nur vergessen können?
Gab es etwas in Kristinas
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