Tod im Schärengarten
als dreiundfünfzig, dachte Thomas.
Das Haar war natürlich angegraut, aber noch relativ voll, im Unterschied zu vielen anderen Männern in seinem Alter. Der Gesichtsausdruck war friedvoll. Er hatte wohl gar nicht mitbekommen, dass sein Leben gerade zu Ende ging.
Thomas umrundete die Pritsche, um sich den toten Nyrén genauer anzusehen.
Der Körper wies keine besonderen Merkmale auf. Er war passabel in Form gewesen, eine Idee übergewichtig, aber nicht schlimm. Der Blinddarm war ihm entfernt worden, eine seit Langem verblasste Narbe rechts vom Nabel verriet den Eingriff.
»Was kannst du uns sagen?«, fragte Margit.
Sachsen zog seine Brille aus der Brusttasche und überflog das Obduktionsprotokoll, um seine Erinnerung aufzufrischen.
»Mal sehen«, sagte er und blätterte um. »Wie ich schon am Telefon sagte, trat der Tod mit sofortiger Wirkung ein. Die Kugel durchschlug die Schläfe, ging durch den rechten Stirnlappen und blieb in der rechten Gehirnhälfte stecken. Auf ihrem Weg hat sie genug Hirnsubstanz zerstört, um das Opfer schnell und effektiv zu töten.«
»Kannst du etwas über den Winkel sagen?« Margit beugte sich vor, um das Einschussloch zu studieren. Es war nur einen knappen Zentimeter groß und sah sauber und ordentlich aus. Fast wie ein chirurgischer Schnitt.
»Offenbar ist er schräg von oben erschossen worden. Die Kugel hat das Gehirn in Abwärtsrichtung durchdrungen. Das spricht dafür, dass der Schütze höher gestanden hat als das Opfer.«
»Wie viel höher?«, fragte Thomas.
»Schwer zu sagen. Etwas.«
»Und der Abstand zwischen Täter und Opfer? Was meinst du?« Thomas dachte daran, dass der Schuss auf Juliander aus einer Entfernung von fünfzig bis hundert Metern abgefeuert worden war.
»Der war schon ganz ordentlich. Es gibt keine Pulverrückstände, also dürfte es sich um etliche Meter gehandelt haben. Irgendwas zwischen zwanzig und achtzig. Ich möchte mich da nicht festlegen.«
»Wie sieht’s mit der Kugel aus?«
Sachsen drehte sich um und nahm ein kleines Ding aus einer Metallschale. Er hielt es ihnen hin, damit sie es begutachten konnten.
»Ist der ersten verdächtig ähnlich«, sagte Margit.
»Ja. Dieselbe Pilzform, dieselbe Art Metall.«
»Wann geht sie zur Analyse?«
»Heute Nachmittag.«
»Und wann kriegen wir Bescheid?«
»Das musst du Linköping fragen. Du kannst ja beantragen, dass sie euch vorziehen«, sagte er, ehe Margit den Mund öffnen konnte. »Das hattest du doch sowieso vor, oder?«
»Was hältst du davon, wenn wir gleich mal in die Birkalidsgatan fahren«, sagte Thomas, als sie wieder in den Wagen gestiegen waren. »Ich würde mir gern den Tatort ansehen, auch wenn der inzwischen aufgeräumt ist. Zu ärgerlich, dass sie uns heute Nacht nicht angerufen haben.«
Margit zuckte mit den Schultern.
»Woher sollte die Leitstelle denn wissen, dass dieser Mord mit dem anderen zusammenhängt. Du erwartest doch nicht, dass sie Gedanken lesen können. Der Diensthabende hat den Polizeibezirk alarmiert, in dem der Mord passiert ist. Er hat sich nur an die Vorschriften gehalten.«
Thomas ließ sich von der Logik in Margits Erklärung nicht beirren.
»Wenn ich den Alten richtig verstanden habe, übernehmen wir die Ermittlung. Das heißt doch, dass jetzt keiner mehr einen Zusammenhang bezweifelt.«
Er drehte den Zündschlüssel um.
»Es ist ja nicht weit. Wir brauchen nur über die Solnabron zu fahren.«
Gut fünf Minuten später parkte Thomas den Wagen in einer Querstraße der Rörstrandsgatan, rund hundert Meter von der Stelle entfernt, wo Martin Nyrén ums Leben gekommen war.
Als sie ausstiegen, fiel ihm auf, was für eine ruhige Gegend das war. Auf den Straßen fuhren nur wenige Autos, und eine Unmenge von kleinen Läden und Cafés säumten die Bürgersteige. Es war die reinste Kleinstadtidylle, mitten in der Großstadt.
Vor dem Haus Birkalidsgatan 22B waren schwache Blutflecke auf der Treppe zu erkennen. Jemand hatte versucht, die Glasscheibe der Haustür zu putzen, aber man konnte immer noch sehen, dass etwas an der Scheibe heruntergelaufen war.
Thomas zog Malmstens Tatortfoto hervor. Trotz der Dunkelheit war die Aufnahme erstaunlich scharf. Es war kein Problem, Nyréns Gesicht zu erkennen. Es wirkte friedvoll, so als läge er aufgebahrt in der Leichenhalle.
»Stell dich in den Eingang«, sagt Thomas, »dann versuchen wir zu rekonstruieren, wie es abgelaufen sein könnte. Er war auf dem Heimweg, das wissen wir. Da er vor dem Haus erschossen wurde,
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