Tod in Blau
worauf Leo beinahe hintenüberkippte.
»Frau Wegner?«
Sie saß auf dem Sofa,
einen Notizblock auf den Knien, und schreckte ein wenig zusammen, als
Walther sie ansprach.
»Würden Sie Ihren
Mann als gläubigen Menschen bezeichnen?«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Nein. Wieso?«
»Wegen der Bibel, die
auf seinem Nachttisch liegt.«
»Ach die. Er hat gern
im Alten Testament gelesen, die saftigen Stellen, wie er es nannte. Und
die Offenbarung, eben alles, was plakativ und dramatisch war. Judith und
Holofernes, Susanna im Bade, das Hohelied, das Buch Hiob. Er plante auch
einen Bibelzyklus, aber dazu ist er nicht mehr gekommen.«
»Vielen Dank, Frau
Wegner.«
Leo saß auf dem
Schreibtischstuhl und sah sich nachdenklich um. »Wir können den
ganzen Kram unmöglich allein durchgehen. Ich schicke morgen zwei
Leute her, die sich um die Regale kümmern. Aus dem Schreibtisch
nehmen wir das hier mit.« Er zeigte auf einen Stapel mit Unterlagen,
Aktenordnern und Heften.
Walther berichtete kurz von
Wegners Bibellektüre, dann kehrten sie zurück ins Wohnzimmer.
»Hier ist die Liste,
ich hoffe, sie ist vollständig. Aber ich kann gar nicht richtig
denken, ich habe nur kurz hingeschaut, als ich …« Sie
schluckte und wischte sich die Augen.
»Ich verstehe, Frau
Wegner, lassen Sie sich Zeit. Um eins möchte ich Sie aber noch bitten«,
sagte Leo. »Schreiben Sie uns auch die Namen der engsten Freunde
Ihres Mannes auf, dazu die von guten Bekannten, Mäzenen,
Auftraggebern, wer Ihnen gerade einfällt. Wir müssen uns ein möglichst
vollständiges Bild von Ihrem Mann machen. Nur so können wir
herausfinden, ob er Feinde hatte, die womöglich vor einem Mord nicht
zurückgeschreckt sind.«
»Muss ich das jetzt
gleich machen?«
»Nein, diese Liste können
Sie in Ruhe zusammenstellen und morgen meinen Kollegen übergeben, die
die Durchsuchung fortsetzen werden. Seien Sie bitte um elf Uhr vormittags
zu Hause. Eins noch.« Leo sah sie ernst an. »Ich möchte
noch Ihre Fingerabdrücke nehmen.« Als sie widersprechen wollte,
hob er beschwichtigend die Hand. »Es geht lediglich darum, sie mit
den im Atelier gefundenen Abdrücken zu vergleichen, damit wir
feststellen können, ob sich dort Fremde aufgehalten haben.« Er
holte eine Karte und ein Stempelkissen aus der Tasche. Zögernd stand
Nelly Wegner auf und reichte ihm die Hand. Er drückte ihre Finger
behutsam nacheinander in die Farbe und dann auf die entsprechend
beschriftete Karte. »Vielen Dank für Ihr Verständnis, Frau
Wegner. Dann verabschieden wir uns für heute.«
Er und Walther waren schon
auf dem Weg zur Tür. Nelly Wegner verharrte still am Tisch, den Blick
auf die schwarzgefärbten Fingerspitzen gerichtet, hob dann plötzlich
den Kopf und rief ihnen nach: »Herr Kommissar, an eines erinnere ich
mich jetzt. Die Staffelei war nicht mehr da.«
8
Das Auffälligste in
Clara Bleibtreus Wohnzimmer waren die Bücherregale, die drei Wände
bedeckten. Sie waren so hoch, dass in einer Ecke eine alte
Bibliotheksleiter stand, mit der man an die obersten Borde gelangte. Das
weich gepolsterte Sofa und die Sessel luden zum gemütlichen Schmökern
ein. Die Bücher waren das Beste, was sie aus ihrer Ehe mitgenommen
hatte, dachte Clara bisweilen.
»Es ist furchtbar, ich
weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte Magda
Schott und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Dankbar griff
sie nach der dampfenden Teetasse, die ihre Freundin gerade auf den Tisch
gestellt hatte. Der Regen rann in dicken Schnüren an den hohen
Fenstern hinunter, die Welt hinter dem Glas schien zu verschwimmen.
»Du bist heute
ausgesprochen spät dran. Ich frage mich ohnehin, wie du das alles
allein schaffst«, meinte Clara und schob Magda die Zuckerdose hin.
»Ich wäre gern früher
gekommen, aber dann tauchte noch eine Frau in der Praxis auf. Mit ihrem
kranken Kind. Na ja, krank sind die Kinder in der Gegend fast alle. Ich
wollte sie wegschicken, aber sie ließ sich einfach nicht abwimmeln.
Da konnte ich schlecht nein sagen.« Sie trank einen großen
Schluck und lehnte sich behaglich in den Sessel zurück.
»Also habe ich den
Kleinen noch untersucht.«
»Und was hatte das
Kind?«
Magda seufzte. »Na was
schon, das Übliche. Schwere Bronchitis, hohes Fieber, Atemnot. Dazu
mangelernährt und rachitisch. Selbst wenn er die Krankheit übersteht,
ist
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