Tod in Blau
befrage, muss ich einschätzen können, inwieweit er
sich seiner Handlungen und seiner Umgebung bewusst ist.«
Sie schaute ihn etwas verständnislos
an. »Sie reden aber komisch.«
Leo lächelte
entschuldigend. »Ich meine, versteht er, was die Leute zu ihm sagen?
Hat er ein gutes Gedächtnis? Kann er Wahrheit und Lüge
unterscheiden?«
»Ach so. Eigentlich ist
er nur langsam. Wenn ich ihm sag, er soll was tun, macht er's auch, aber
es dauert. Dann wird sein Vater wütend. Hat keine Geduld mit dem
Jungen.«
Leo überlegte, wie er
etwas Brauchbares aus der Frau herausholen konnte. »Hat er nie erzählt,
dass er den Maler kannte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Mir erzählt er nich viel. Ich hab ja mit dem Berti zu tun, der
hat's immer auf der Brust, dazu die ganze Näharbeit.«
Mit anderen Worten, sie hatte
keine Zeit für ihren älteren Sohn, der zu viel Mühe machte,
und wusste kaum, wo er sich den ganzen Tag herumtrieb.
Aus dem Nebenraum erklang
lautes Jammern. Sie sprang auf und holte Berti, den sie auf ihren Schoß
setzte. Er lehnte sich an sie, und sie streichelte ihm zärtlich
über den Kopf. Leo musste sich beherrschen, so offenkundig war die
ungerechte Verteilung ihrer Liebe.
In diesem Moment klopfte es.
Leo stand schnell auf, öffnete die Wohnungstür und sah sich
einem etwa zwölfjährigen Jungen mit zerzaustem braunem Haar
gegenüber. Er trug ein Brot unter dem Arm, das er vor seine Mutter
auf den Tisch legte. Kein Zweifel, das war der Junge von der Zeichnung,
die Leo aus der Kunsthandlung Schuster mitgenommen hatte.
»Paul, der Kommissar
hier is von der Polizei. Er will mit dir reden«, sagte die Mutter
ohne Umschweife.
Leo hätte sich lieber
selbst vorgestellt. Er sah den Jungen freundlich an. »Ich heiße
Leo Wechsler und möchte mich nur ein bisschen mit dir unterhalten.«
Er überlegte schnell. »Sollen wir lieber rausgehen? Vielleicht
gibt es irgendwo ein Café, in dem ich dir eine heiße
Schokolade kaufen kann.« Der Junge sah ziemlich verfroren aus.
»Hier gibt's kein Café«,
warf die Mutter ein.
»Wir finden schon was«,
meinte Leo und stand auf. »Wir sehen uns sicher noch einmal, Frau Görlich.
Auf Wiedersehen.«
Sie hatte ihren älteren
Sohn nicht einmal richtig angesehen, sonst wären ihr die blauen
Lippen und rotgefrorenen Hände aufgefallen, dachte Leo, als er mit
Paul zur Treppe ging. Er trug eine Jacke, die viel zu dünn für
dieses Wetter und an den Ellbogen durchgescheuert war. Leo musste an
seinen eigenen Sohn denken, der jeden Tag mit einem warmen Wollmantel und
dem weichen, von Tante Ilse gestrickten Schal zur Schule ging.
Unten im Hof sah ihn der
Junge schüchtern an. »Was ist das, was du mir kaufen willst?«
»Heiße
Schokolade, die kannst du trinken. Sie wärmt und schmeckt ganz süß.«
»Hab ich noch nie gehört.
Aber Süßes gibt es in der Bäckerei um die Ecke an der
Seestraße, wo die Elektrische fährt.«
Leo beobachtete ihn genau,
als er neben ihm herging. Dumm wirkte er tatsächlich nicht, aber
Benehmen und Alter passten nicht richtig zusammen. Als
sie an einer Gruppe Kinder vorbeikamen, rief ein Mädchen: »Paul,
Paul, im Kopp janz faul.« Leo ging ungerührt weiter und sah
Paul von der Seite an. Der Junge schien seinen Blick zu spüren.
»Das rufen die immer.
Weiß nicht, warum«, sagte er nur.
»Weißt du denn,
warum ich hier bin?«, fragte Leo. Sie waren inzwischen auf der
Seestraße, er musste laut sprechen, um das Klingeln der Elektrischen
und das Hufgeklapper der Pferdefuhrwerke zu übertönen. Der Junge
hatte die Hände tief in die Taschen seiner verschlissenen Jacke
gerammt und hielt den Kopf gesenkt.
Er zuckte nur die Achseln.
»Es geht um den Maler
Arnold Wegner, der gestorben ist. Wie ich höre, hast du ihn gekannt.«
Paul schüttelte nur
stumm den Kopf und blieb abrupt stehen. Er zeigte auf das Schild einer
kleinen Konditorei, in deren Schaufenster eine einzige Torte und wenige
Teilchen ausgestellt waren. Daneben hing ein Schild mit der Mitteilung:
WIR SCHREIBEN NICHT AN.
Leo stieß die Tür
auf. Hinter dem Verkaufsraum befand sich ein winziger Gastraum mit drei
Tischen, der düster und wenig einladend wirkte. Dennoch, alles war
besser, als mit dem Jungen draußen in der Kälte oder in dieser
unsäglichen Wohnung zu sprechen.
»Haben Sie heiße
Schokolade?«, fragte er die Verkäuferin. Sie
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