Tod in Breslau
Schachfiguren
auf dem Schreibtisch auf und griff nach Überbrands
»Schachfallen«. Als ihn jedoch die verschiedenen Kombi-
nationen so sehr gefesselt hatten, dass er weder die Hitze noch seine Müdigkeit mehr spürte, klingelte es an der
Tür. (Verdammt, das ist bestimmt Anwaldt. Ich hoffe nur, dass er Schach spielt!)
Tatsächlich war Anwaldt ein begeisterter Spieler. Es
war also nicht verwunderlich, dass sich Mock und er bis
in die frühen Morgenstunden über das Schachbrett beug-
ten und Kaffee und Limonade tranken. Mock, der oft den
gewöhnlichsten Tätigkeiten prognostische Bedeutung
gab, war beinahe überzeugt, dass das Ergebnis der letzten
Partie ein Hinweis auf Anwaldts zukünftigen Fahndungs-
erfolg sein werde. Es war ihre sechste Partie und erstreck-te sich über zwei Stunden des dämmernden Morgens. Sie
endete mit einem Remis.
Breslau, Sonntag, 8. Juli 1934.
Neun Uhr morgens
Mock hielt mit seinem schwarzen Adler vor einem he-
runtergekommenen Zinshaus in der Zietenstraße. Hier
wohnte Anwaldt – er war bereits im Stiegenhaus auf
dem Weg nach unten, als er Mock hupen hörte. Die bei-
den Männer gaben sich die Hand. Mock fuhr durch die
Seydlitzstraße, vorbei an dem riesigen Gebäude des Zir-
kus Busch, bog links ein, überquerte den Sonnenplatz
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und hielt vor der Druckerei der Nazis in der Sonnen-
straße. Er verschwand im Eingang und kam nach einer
Weile mit einem Päckchen unter dem Arm zurück. Sie
fuhren weiter, Mock nahm die Kurven eng und be-
schleunigte scharf, um die heiße, stehende Luft aus dem
Wagen zu drängen. Er war unausgeschlafen und sprach
wenig. Sie fuhren unter dem Viadukt hindurch und be-
fanden sich nun auf der langen und prachtvollen Ga-
bitzstraße. Anwaldt betrachtete interessiert die Fassaden
der Kirchen, die Mock mit großer Kennerschaft alle be-
nennen konnte: zunächst die kleine Jesuitenkapelle,
scheinbar an ihr Nachbarhaus geklebt, dann den Turm
der neu gebauten Christuskirche und die Karoluskirche
mit ihrer stilisierten mittelalterlichen Silhouette. Mock
fuhr so schnell, dass er auf der geraden Chaussee vier
Straßenbahnen überholte. Es ging vorbei am Gabitzer
Gemeindefriedhof, über die Menzelstraße und die Kü-
rassierallee, dann parkten sie gegenüber dem Backstein-
bau der Kaserne. Hier, in einem modernen Wohnhaus
mit der Nummer 158, befand sich die Mietwohnung des
Doktor Hermann Winkler, der bis vor kurzem Weins-
berg geheißen hatte.
Der Fall Friedländer hatte seinem Leben eine glückli-
che Wende gegeben, deren guter Engel Hauptsturmfüh-
rer Walter Piontek gewesen war. Ihre Bekanntschaft hatte
eigentlich nicht gerade erfreulich begonnen. An einem
Abend im Mai 1933 war Piontek mit seiner Meute in
Weinsbergs frühere Wohnung eingedrungen, hatte ihn in
Gewahrsam nehmen lassen, grausam gefoltert und ihn
dann mit zuckersüßer Stimme vor die Wahl gestellt:
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Entweder er würde auf glaubwürdige Weise vor der Pres-
se erklären, dass sich Friedländer nach seinen Anfällen in ein Monster verwandelte – oder er müsse mit seinem
baldigen Ableben rechnen. Als der Arzt zögerte, gab ihm
Piontek noch zu bedenken, dass er, wenn er sich mit der
ersten Möglichkeit einverstanden erklärte, außerdem mit
beträchtlichen finanziellen Zuwendungen rechnen kön-
ne. So kam es, dass Weinsberg ja sagte und sich sein Le-
ben schlagartig änderte. Dank Pionteks Protektion erhielt
er eine neue Identität, und auf sein Konto floss jeden
Monat ein fester, aber nicht allzu hoher Betrag, mit dem
der sparsame Arzt jedoch bequem sein Auskommen hat-
te. Doch dieses sorglose Leben hielt nicht lange an. Vor
einigen Tage hatte Winkler in der Zeitung von Pionteks
Tod erfahren. Und bereits am selben Tag hatten ihm ei-
nige Gestapo-Leute einen Besuch abgestattet und ihm er-
klärt, dass die Vereinbarung zwischen Winkler und dem
großzügigen Hauptsturmführer nicht mehr gültig sei. Als
Winkler protestierte, ging einer der Gestapo-Leute, ein
brutaler Dickwanst, nach den Anweisungen seines Chefs
vor: Er brach Winkler sämtliche Finger der linken Hand.
Nach diesem Besuch hatte sich Winkler zwei scharf abge-
richtete Doggen zugelegt, hatte notgedrungen auf das Ge-
stapo-Honorar verzichtet und versuchte von nun an, un-
sichtbar zu sein.
Mock und Anwaldt schreckten zurück, als sie hinter
der Wohnungstür das wütende Bellen und Knurren der
Hunde hörten.
»Wer ist da?«, drang eine Stimme durch die nur einen
Spalt
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