Tod in Breslau
zögerte keinen Moment und kletterte unter
großer Anstrengung auf das Fensterbrett – sein Fußge-
lenk peinigte ihn ebenso wie sein voller Magen. Von hier
aus streckte er seinen Arm durch den schmalen Spalt des
Fensters und drehte den Messinggriff. Einen Moment
lang musste er mit der Gardine und dem Farn kämpfen,
der auf dem Fensterbrett wucherte, doch dann hatte er es
geschafft. Drinnen fühlte er sich bereits wie zu Hause – er befreite sich von Jackett, Weste und Krawatte, hängte alles über eine Stuhllehne und sah sich nach Lea um. Zu-
nächst dachte er an das Atelier, denn er vermutete, dass
sie dort vor sich hin dämmerte. Vorher musste er jedoch
noch einen Abstecher ins Bad machen, denn sein Mittag-
essen machte sich jetzt unangenehm bemerkbar.
Im Badezimmer war Lea Friedländer. Ihre Beine bau-
melten über der Klosettmuschel, Schenkel und Waden
waren mit Fäkalien beschmutzt. Sie war vollständig
nackt. Ein dickes Kabel war um ihren Hals gebunden und
an einem Abflussrohr gleich unter der Decke befestigt.
Die Leiche hing mit dem Rücken zur Wand. Ihre karmin-
rot geschminkten Lippen entblößten die Zähne, zwischen
denen eine bläuliche, geschwollene Zunge hervorquoll.
Anwaldt machte einen Schritt zum Bidet, um in einem
Schwall den Inhalt seines Magens zu entleeren. Schwan-
kend setzte er sich auf den Wannenrand und versuchte,
einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte nicht lange
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und er war sicher, dass Lea keinen Selbstmord begangen
hatte. Im Badezimmer fand sich kein Hocker oder ein anderer Gegenstand, der ihr bei ihrem Vorhaben behilflich hätte sein können, und die Klosettmuschel war für
diesen Zweck zu niedrig. Es sei denn, sie hätte das Kabel
an dem dicken Rohr unter der Decke befestigt, sich dann
mit einer Hand daran festgehalten, um sich selbst die
Schlinge um den Hals zu legen. Doch solch ein Kunst-
stück wäre schon einem Akrobaten nicht ganz leicht ge-
fallen, umso weniger wohl einer Morphinistin, über die
sich wahrscheinlich heute bereits ein halbes Dutzend
Kerle hergemacht hatten. Es sah eher danach aus, als hät-
te ein sehr kräftiger Mensch Lea erwürgt, das Seil am
Rohr befestigt und sie zu guter Letzt hochgehoben, um
ihr die Schlinge um den Hals zu legen. Der Unbekannte
hatte lediglich vergessen, einen Stuhl oder etwas Ähnli-
ches ins Bad zu stellen, um ihren mysteriösen Selbstmord
glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Plötzlich hörte er, wie die Gardine des Fensters, durch
das er hineingekommen war, gegen die Scheibe schlug.
Durchzug. Wahrscheinlich war noch ein anderes Fenster
in der Wohnung offen.
Als Anwaldt zur Tür sah, stand dort ein riesiger, dun-
kelhäutiger Mann. Er holte gerade zu einem kräftigen
Schlag aus. Anwaldt sprang zur Seite und trat dabei auf
einen seidenen Unterrock neben dem Bidet. Sein rechtes
Bein rutschte nach hinten, sodass sein ganzes Gewicht auf
dem linken, verstauchten Fuß lastete. Er knickte ein und
machte vor dem Türken eine unfreiwillige Verbeugung.
Der hatte die Hände zu einer Doppelfaust gefaltet und
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versetzte Anwaldt in diesem Moment von unten einen
heftigen Schlag gegen das Kinn. Anwaldt kippte hinten-
über in die breite Wanne. Bevor er verstanden hatte, was
überhaupt geschah, sah er das Gesicht seines Angreifers
über sich – und dessen klobige Faust mit dem Totschlä-
ger. Der Schlag auf den Solarplexus nahm ihm den Atem.
Anwaldt hustete. Röchelte erstickt. Sein Blickfeld ver-
schwamm. Noch ein Stöhnen, und dann wurde es Nacht.
Breslau, 10. Juli 1934.
Acht Uhr abends
Ein Schwall eiskalten Wassers brachte Anwaldt wieder zu
sich. Er saß, splitternackt an einen Stuhl gefesselt, in einer fensterlosen Zelle. Zwei Männer in schwarzen SS-Uniformen hatten ihn scharf ins Auge gefasst. Der klei-
nere verzog sein längliches, intelligentes Gesicht zu einem fratzenhaften Grinsen, und Anwaldt fühlte sich absurd-erweise an seinen Mathematiklehrer im Gymnasium er-
innert, der ähnliche Grimassen geschnitten hatte, wenn
einer der Schüler eine Aufgabe nicht lösen konnte. (Ich möchte Sie vor diesen Menschen warnen – sie sind für ihre Rücksichtslosigkeit bekannt und könnten sie jederzeit
zwingen, die begonnene Fahndung aufzugeben. Falls sie –
Gott behüte! – je in die Hände der Gestapo geraten sollten, behaupten sie mit aller Hartnäckigkeit, dass sie bei der Abwehr sind und in Breslau ein Netz des polnischen Geheimdienstes aufbauen wollen.)
Der
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