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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Frau Schlossarczyk herausge-holt hat. Wenn ich also den Sohn finden möchte, muss ich Erkin finden. Verdammt, vielleicht ist er bereits in Rawicz?
    Es würde mich interessieren, in welchem Berliner Waisenhaus das Söhnchen des Barons untergekommen ist. Viel-
    leicht habe ich ihn gekannt?) Anwaldt war ganz in Gedan-277
    ken versunken und verbrannte sich die Finger an seiner
    Zigarette. Er fluchte laut. Die Mitreisenden im Abteil des Nachtzugs schwiegen betreten. Nur ein etwa achtjähriger
    pausbäckiger Junge, der sehr nordisch aussah und einen
    dunkelblauen Anzug trug, stand direkt vor Anwaldt und
    hielt ein Buch in der Hand. Er sagte etwas auf Polnisch
    und legte Anwaldt das Buch auf die Knie. Dann drehte er
    sich hastig um, lief zu seiner jungen, ein wenig pummeli-
    gen Mutter und stieg auf ihren Schoß. Anwaldt schaute
    das Buch an: Es war eine Schulausgabe von Sophokles’
    »König Ödipus«. Das konnte kaum das Buch des Kleinen
    sein – wahrscheinlich hatte es ein Gymnasiast auf seiner
    Fahrt in die Ferien im Abteil liegen gelassen. Der Junge
    und seine Mutter sahen Anwaldt erwartungsvoll an. Die-
    ser machte eine Geste, dass es nicht sein Buch sei, und
    fragte die Mitreisenden, wem es gehöre. Im Abteil saßen
    neben der Frau mit ihrem Kind noch ein Student und ein
    junger Mann, der deutlich semitische Züge aufwies. Das
    Buch gehörte keinem von ihnen, der Student hatte beim
    Anblick des griechischen Textes bloß ein »Um Gottes
    willen!« hervorgestoßen. Anwaldt lächelte und bedankte
    sich bei dem Jungen, indem er den Hut lüftete. Er schlug
    das Buch an einer beliebigen Stelle auf und erblickte die
    griechischen Buchstaben, die er einst so geliebt hatte und die ihn jetzt neugierig machten, ob er ihren Sinn nach all den Jahren noch verstehen würde. Halblaut las er den
    681. Vers und übersetzte ihn, so gut es ging:
    »Ein grundloser Argwohn kam auf.
    Es waren Worte. Doch auch was unberechtigt ist, kann
    quälend sein.«
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    (Ich kann noch immer ganz gut Griechisch, nur bei zwei der Wörter musste ich überlegen. Zum Glück gibt es im
    Anhang ein Glossar.) Anwaldt blätterte weiter und versuchte sich an Vers 1068 – Jokastes Ausruf: »Oh, Un-
    glückseliger! Niemals sollst du erkennen, wer du bist!«
    Der Ton der Prophezeiung in diesen Sätzen erinnerte ihn
    an ein Spiel, das er einst mit Erna gespielt hatte und das sie »Bibelorakel« genannt hatten. Sie hatten die Bibel an
    einer beliebigen Stelle aufgeschlagen und mit geschlosse-
    nen Augen auf die erstbeste Zeile gedeutet. Der so be-
    stimmte Satz sollte dann eine Prognose ihrer Zukunft
    sein. Anwaldt lachte vor sich hin und klappte den
    Sophokles immer wieder auf und zu. Aber das Spiel wur-
    de von einem polnischen Zöllner unterbrochen, der die
    Pässe verlangte. Er inspizierte Anwaldts Papiere gewis-
    senhaft, tippte sich an die Mütze und verließ das Abteil.
    Anwaldt kehrte zu seinem Orakel zurück, doch er konnte
    sich nicht recht auf das Übersetzen konzentrieren, da ihn
    der Junge unverwandt anstarrte. Er hatte sich Anwaldt
    gegenübergesetzt und glotzte, ohne mit den Lidern zu zu-
    cken. Der Zug fuhr nach der Grenzstation wieder an, und
    der Kleine starrte weiter. Anwaldt versuchte abwech-
    selnd, sich ins Buch zu versenken und den bohrenden
    Blick des Jungen zu erwidern. Es half nichts. Er dachte
    daran, die Mutter auf das merkwürdige Verhalten ihres
    Kindes aufmerksam zu machen, aber sie war selig einge-
    schlummert. Also flüchtete er auf den Gang, öffnete das
    Fenster und fingerte nach seinen Zigaretten. Dabei fühlte
    er erleichtert seinen neuen Dienstausweis in der Tasche,
    den er nach seinem Besuch bei Huber in der Personalab-
    279
    teilung des Polizeipräsidiums abgeholt hatte. (Wenn dich so ein Rotzlöffel aus dem Gleichgewicht bringen kann,
    dann steht es schlecht um deine Nerven!) Er rauchte so gierig, dass mit einem Zug beinahe ein Viertel der Zigarette verglühte. Sie fuhren in einen kleinen Bahnhof ein –
    »Rawicz« stand in großen Lettern auf der Tafel.
    Rasch verabschiedete sich Anwaldt von den anderen
    Passagieren, steckte das Buch in die Tasche und sprang
    auf den Perron. In seinem Notizbuch blätterte er nach
    der Adresse: Ulica Rynkowa 3. Als er den Bahnhof ver-
    ließ, fuhr eine Droschke vor, die Anwaldt erfreut anhielt, um sich zu seinem Ziel bringen zu lassen.
    Rawicz war eine hübsche, saubere, blumengeschmück-
    te Kleinstadt, die von den roten Backsteintürmen des Ge-
    fängnisses überragt wurde. Die

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