Tod in den Anden
ja. Der Zerfall von Naccos zog sie an, das geheime Leben der huacas . Die Berge hier sind voll von diesen uralten Grabstätten. Gäbe es sie nicht, würden in dieser Gegend der Anden nicht so viele Geister wohnen. Es hat uns große Mühe gekostet, mit ihnen in Verbindung zu treten. Durch sie haben wir viel gelernt, selbst Dionisio, der schon so viel wußte. Es verging viel Zeit, gewaltige Anstrengungen waren nötig, damit sie sich zeigten. Um zu erkennen, wann der Kondor, der auftauchte, Bote war und wann nur ein hungriges Tier auf der Suche nach Beute. Jetzt irreich mich nicht, auf den ersten Blick unterscheide ich das eine vom anderen, und wenn ihr daran zweifelt, dann stellt mich auf die Probe. Nur die Geister der höchsten und mächtigsten Berge, jener, die das ganze Jahr schneebedeckt sind, jener, die die Wolken durchbohren, verkörpern sich in Kondoren; die kleinen in Turmfalken oder Falken und einige mickrige Hügel in Drosseln. Diese Geister sind schwach und können keine Katastrophen herbeiführen. Höchstens Unheil, zum Beispiel eine Familie ins Unglück stürzen. Denen genügen die Opfergaben in Form von Schnaps und Essen, die die Indios ihnen darbringen, wenn sie die Bergpässe überqueren.
Hier ist sehr viel passiert in der Vergangenheit. Lange bevor Santa Rita eröffnet wurde, meine ich. Die Gabe der Weissagung erlaubt, ebensogut zurück- wie vorauszusehen, und ich habe gesehen, was Naccos war, bevor es Naccos hieß und bevor der Verfall den Kampf gegen die Lebensfreude gewann. Hier gab es viel Leben, denn es gab auch viel Tod. Man erfuhr Leid und Freude im Überfluß, wie es sein muß; schlimm ist, wenn man, wie jetzt in Naccos, im ganzen Hochland und vielleicht in der ganzen Welt, nur noch leidet und niemand sich mehr daran erinnert, was Freude war. Früher wagten die Leute, dem großen Unheil mit Sühneopfern zu begegnen. So wurde das Gleichgewicht bewahrt. Leben und Tod wie eine Waage mit zwei gleichgewichtigen Waagschalen, wie zwei gleich starke Widder, die sich Hornstöße versetzen, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Was taten sie, damit der Tod das Leben nicht besiegte? Haltet euch den Magen fest, nicht daß ihr euch übergeben müßt. Diese Wahrheiten sind nicht für schwache Hosen, sondern für starke Röcke bestimmt. Die Frauen übernahmen die Verantwortung. Ja, sie, hört gut zu. Und sie taten ihre Pflicht. Der Mann dagegen, den das Dorf in der Ratsversammlung zum Vorsteher der Feste des nächsten Jahres wählte, der zitterte. Er wußte, daß er nur bis dahin seinen Rang und seine Autorität besitzen würde; danach erwartete ihn das Opfer. Er entzog sich nicht, er versuchte nicht, nach dem von ihm geleiteten Fest, nach der Prozession, den Tänzen, dem Gelage und dem Besäufnis das Weite zu suchen. Mitnichten. Er blieb bis zum Ende, er war einverstanden und stolz, seinem Volk Gutes zu tun. Er starb als Held, geliebt und verehrt. Das war er: ein Held. Er trank bis zum Umfallen, er spielte das Charango oder die Hirtenflöte oder die arpa oder die Blechrasseln, oder welches Instrument er sonst beherrschte, und tanzte, stampfte mit den Füßen und sang Tag und Nacht, bis er den Schmerz aus sich herausgetrieben hatte, um sich zu vergessen, um sich nicht zu spüren, um sein Leben ohne Angst und aus freiem Willen hinzugeben. Nur die Frauen schwärmten aus, um ihn zu jagen, in der letzten Nacht des Festes. Betrunken auch sie, zügellos auch sie, wie die verrückten Weiber von Dionisios Truppe, nicht mehr und nicht weniger. Aber damals versuchten weder die Ehemänner noch die Väter, dieFrauen zurückzuhalten. Sie schliffen ihnen Messer und Macheten, feuerten sie an: ›Such ihn, find ihn, jag ihn, beiß ihn, blute ihn aus, damit wir ein Jahr des Friedens und der guten Ernten haben.‹ Sie jagten ihn genau wie bei der Treibjagd, die die Indios der Gemeinschaft veranstalteten, um den Puma und den Hirsch zu jagen, als es noch Pumas und Hirsche in diesen Bergen gab. Genauso war die Jagd auf den Festvorsteher. Sie bildeten einen Kreis und schlossen ihn darin ein, singend, immer singend, tanzend, immer tanzend, einander mit schrillen Schreien antreibend, wenn sie ihn nah fühlten, wenn sie wußten, daß der Festvorsteher bereits umzingelt war, daß er nicht mehr entkommen konnte. Der Kreis zog sich enger und enger zusammen, bis sie ihn faßten. Seine Herrschaft ging im Blut unter. Und in der nächsten Woche, in der großen Ratsversammlung, wählte man den Vorsteher des nächsten Jahres. Das Glück und
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