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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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kamen. »Du wirst unser Heiliger sein, man wird dich beim Dorffest als Retter von Naccos feiern.«
    »Gebt ihm mehr zu trinken, ihr Arschlöcher, und hört auf mit der Duselei«, befahl ein Eisenfresser. »Wenn man schon etwas macht, dann macht man es richtig.«
    Statt der üblichen Quena-Flöte oder der Schalmei hatte Dionisio begonnen, ein hölzernes Blasinstrument zu spielen. Sein dünner, schriller Ton reizte die Nerven des kleinen Stummen, den zahllose Hände an den Armen und am Rücken gefaßt hielten und damit am Umfallen hinderten. Seine Beine bestanden aus Lumpen, seine Schultern aus Stroh, sein Magen war ein Teich mit Enten und sein Kopf ein Wirbel blinkender Leuchtkäfer. Die Sterne flimmerten, und plötzlich färbten Regenbogen die Nacht. Mit ein wenig Kraft hätte er nur die Hand auszustrecken brauchen und einen Stern des Himmels berühren können. Bestimmtwäre er sanft, zart, warm, freundlich wie der Hals eines Vikunja. Ab und zu mußte er würgen, aber da war nichts mehr, was er erbrechen konnte. Er wußte, wenn er seine Augen anstrengte und sich die Tränen abwischte, die sie trübten, dann würde er sehen, wie in der unendlichen Weite des Himmels, über den beschneiten Bergen, die fröhliche Herde der Vikunjas langsam dem Mond entgegentrottete.
    »Das waren andere Zeiten, und sie waren aus vielen Gründen besser als die heutigen«, fügte Dionisio mit kummervoller Miene hinzu. »Vor allem, weil die Leute ihren Spaß haben wollten. Sie wußten, wie man sich amüsiert. Sie waren so arm wie jetzt, und es gab auch viel Leid und Unglück. Aber hier, in den Anden, hatten die Leute noch, was sie heute verloren haben: Spaß am Vergnügen. Lebensfreude. Jetzt bewegen sie sich zwar und reden und betrinken sich, aber sie wirken alle halbtot. Haben Sie das nicht gemerkt, mein Herr Korporal?«
    Wenn es Sterne gab, dann befand er sich nicht mehr in Dionisios Kantine. Sie hatten ihn ins Freie gebracht: deshalb spürte er an seinem Gesicht, an seiner Nasenspitze, an seinen Händen und seinen Füßen, die die Sandalen verloren hatten, die eisige Kälte der Nacht, obwohl in seinem Körper kleine Feuer knisterten, die seinem Blut eine laue Wärme schenkten. Hagelte es? Statt des vorherigen Gestanks stieg ihm ein reiner Duft nach Eukalyptus, nach geröstetem Mais, nach murmelndem, frischem Quellwasser in die Nase. Trugensie ihn? Saß er auf einem Thron? War er der Schutzheilige des Festes? Gab es einen Pater, der zu seinen Füßen zu ihm betete, oder war es die Litanei der Betschwester, die nachts vor der Tür des Schlachthauses in Abancay schlief? Nein. Es war die Stimme der Señora Adriana. Wahrscheinlich war auch ein Chorknabe da, halb zerquetscht von der Menge, der die kleine silberne Glocke läutete und das Weihrauchgefäß schwenkte, dessen Duft die Nacht erfüllte. Pedrito Tinoco wußte, wie man das machte, er hatte es in der Pfarrkirche Virgen del Rosario getan, zu jener Zeit, als seine geschickten Hände die Kreisel tanzen ließen: er wußte, wie man den Weihrauch in einer Weise austeilte, daß er bis zu den Gesichtern aller Altarheiligen emporstieg.
    »Sogar bei den Totenwachen amüsierten sie sich, sie tranken und aßen und erzählten Geschichten«, fuhr Dionisio fort. »Wir gingen oft zu Begräbnissen mit der Truppe. Die Totenwachen dauerten Tage und Nächte, alle Korbflaschen leerten sich. Wenn die Verwandten heute diese Welt verlassen, dann verabschiedet man sie ohne jede Zeremonie, wie Hunde. Auch da gibt es einen Niedergang, glauben Sie nicht, mein Herr Korporal?«
    Plötzlich unterbrach ein Ausruf oder ein Schluchzer das ehrfürchtige Schweigen der Prozession, in der sie ihn bergauf führten. Was fürchteten sie? Worüber weinten sie? Wohin gingen sie? Sein Herz begann heftig zu klopfen, und das körperliche Unbehagenverschwand auf einmal. Sie würden ihn mit seinen Freundinnen vereinigen, natürlich. Natürlich. Da waren sie und warteten auf ihn, dort oben, wo sie ihn hinbrachten. Tiefe Rührung erfaßte ihn. Er hätte schreien, hüpfen, ihnen mit tiefen Verbeugungen danken mögen, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Er war wie betäubt vor Glück. Sie würden angespannt dastehen, wenn sie spürten, daß er näher kam, sie würden ihre langen Hälse recken, ihre feuchten kleinen Mäuler würden zittern, ihre großen Augen würden ihn überrascht ansehen, und wenn sie seinen Geruch wiedererkannten, würde die ganze Herde sich freuen, so wie er sich freute, jetzt, im Vorgefühl der Begegnung. Sie

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