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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ein kleiner Buckliger mit dem Haarbüschel eines Stachelschweins auf dem Schädel, schwor, dies sei nicht wahr. Dann widersprach er sich und wimmerte, ein böser Geist bemächtige sich seines Körpers, wenn er trinke, und Raserei erfasse ihn, von der er sich durch Schläge befreien müsse. Nach den vierzig Peitschenhieben war sein krummer Rücken blutüberströmt und geschwollen. Seine Schwüre, er werde niemals mehr einen Tropfen Alkohol anrühren, und seine erbärmlichen Dankesbezeugungen gegenüber den Bewohnern, die mit Peitschen aus Leder und Darm auf ihn einschlugen, ließen nicht so sehr physischen Schmerz als nackte Angst erkennen. Seine Frau schleppte ihn fort, um ihm Pflaster aufzulegen.
    Etwa zwanzig Männer und Frauen wurden vor Gerichtgestellt, verurteilt, ausgepeitscht oder mit Geldstrafen belegt, gezwungen, zurückzuerstatten, was sie in ungebührlicher Weise erworben hatten, zu entschädigen, wen sie über das Maß hinaus für sich hatten arbeiten lassen oder mit falschen Versprechungen getäuscht hatten. Wie viele Beschuldigungen waren richtig, wie viele Erfindungen von Neid und Groll diktiert, Ergebnis der Erregung, in der alle sich getrieben fühlten, um die Wette die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu enthüllen, deren Opfer sie gewesen waren? Nicht einmal sie selbst hätten es zu sagen gewußt, als sie am Nachmittag über Don Crisóstomo zu Gericht saßen, den alten Glöckner – Glöckner war er gewesen, als der Turm der kleinen Kirche von Andamarca eine Glocke und die Kirche einen Pfarrer gehabt hatten, was schon lange zurücklag –, der von einer Frau beschuldigt wurde, er habe, von ihr überrascht, außerhalb des Dorfes einem kleinen Jungen die Hose heruntergezogen. Andere bestätigten die Anschuldigung. Es stimme, er könne seine Hände nicht bei sich behalten, er betatsche die Jungen und versuche, sie zu sich nach Hause zu locken. Ein Mann gestand mit vor Bewegung brechender Stimme, in einer zum Zerreißen gespannten Stille, daß Don Crisóstomo ihn als Kind wie eine Frau gebraucht habe. Nie habe er gewagt, es zu erzählen, aus Scham. Andere könnten hier und jetzt ähnliche Geschichten erzählen. Der Glöckner wurde mit Steinwürfen und Stockhieben hingerichtet, und seine Leiche landete zwischen denen, die auf der Liste gestanden hatten.
    Es dunkelte, als alle Urteile gefällt waren. Dies war der Augenblick, den Don Medardo Llantac nutzte, um den Stein des Grabes seines Vetters Florisel beiseite zu schieben, sich kriechend aus dem Friedhof davonzustehlen und querfeldein in Richtung Puquio davonzulaufen, als hätte er den Teufel auf den Fersen. Er traf eineinhalb Tage später in der Hauptstadt der Provinz ein, erschöpft und noch immer mit vor Entsetzen geweiteten Augen, um zu erzählen, was in Andamarca vor sich ging.
    Die Bewohner, erschöpft, orientierungslos, sahen einander nicht an. Sie fühlten sich wie nach dem Fest des Schutzpatrons, nachdem sie alles Trinkbare getrunken und drei Tage und drei Nächte lang, ohne zu schlafen, gegessen, getanzt, gestampft, geprügelt, Gebete gesprochen hatten und sich nicht mit der Vorstellung abfinden konnten, daß diese große Explosion der Betäubung und Unwirklichkeit zu Ende war und sie sich wieder in die tägliche Routine fügen mußten. Aber jetzt fühlten sie ungleich größere Verwirrung, tieferes Unbehagen angesichts der nicht begrabenen, fliegenumschwärmten Leichen, die vor ihren Augen zu verfaulen begannen, und der zerschundenen Rücken derer, die sie ausgepeitscht hatten. Alle ahnten, daß Andamarca niemals mehr sein würde, was es gewesen war.
    Die von der Miliz machten unermüdlich weiter, wechselten sich ab im Gebrauch des Wortes. Jetzt gelte es, sich zu organisieren. Kein Sieg des Volkes ohneeine eiserne, unverbrüchliche Beteiligung der Massen. Andamarca sei nun Stützpunkt, ein weiteres Glied in der Kette, die sich bereits über die ganze Kordillere der Anden ziehe und sich bis in die Region der Küste und des Urwalds verzweige. Die Stützpunkte seien die Etappe der Vorhut. Wichtig, nützlich, unerläßlich, existierten sie, wie ihr Name besagte, um die Kämpfer zu unterstützen: sie zu ernähren, sie zu heilen, sie zu verstecken, sie zu kleiden, sie zu bewaffnen, sie über den Feind zu informieren, und um diejenigen zu ersetzen, die ihren Anteil am allgemeinen Opfer bezahlten. Alle hatten sie eine Aufgabe zu erfüllen, ihr Scherflein beizutragen. Sie sollten sich nach Ortsvierteln unterteilen, sich straßen-, block-,

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