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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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zu nehmen – er ließ sich einen Teller Suppe mit Dörrfleisch bringen, den er aß, während er die Befragungen fortsetzte –, und eines der wenigen Dinge, die die Bewohner im Verlauf dieses zweiten außergewöhnlichen Tages erfuhren, war, daß Don Medardo Llantac, rasend vor Wut, ihm nicht von der Seite wich und den Offizier über diejenigen informierte, die kamen, um ihre Aussagen zu machen, und daß er während der Verhöre seinen Senf dazugab und Namen, nähere Angaben forderte.
    In jener Nacht zerbrach das trügerische Zusammenleben in Andamarca. In den Häusern, mitten auf derStraße, in der Umgebung des Platzes, auf den alle strömten, um die Bewohner auszuspähen, die aus dem Gemeindesaal kamen, explodierten Auseinandersetzungen, Wortgefechte, Anklagen, Beschimpfungen, Drohungen. Es kam zu Rempeleien, Kratzern und Fausthieben. Die Republikaner und die Gendarmen griffen nicht ein, weil sie entsprechend instruiert worden waren oder weil sie in Ermangelung von Befehlen nicht wußten, wie sie angesichts der entfesselten Feindseligkeit aller gegen alle reagieren sollten. Herablassend oder gleichgültig sahen sie zu, wie die Bewohner einander Mörder, Helfershelfer, Terroristen, Verleumder, Verräter, Feiglinge nannten und handgemein wurden, und rührten keinen Finger, um sie zu trennen.
    Die Befragten mußten alles erzählen, wobei sie ihre Beteiligung, so gut sie konnten, verkleinerten – das heißt, die Verantwortung der anderen vergrößerten –, und der Leutnant konnte in großen Zügen rekonstruieren, was während der Prozesse geschehen war, denn am nächsten Tag wurden die fünf Männer und vier Frauen, die zu den Befehlshabern des Stützpunktes ernannt worden waren, im Gemeindehaus eingesperrt.
    Noch vor Mittag versammelte der Leutnant die Bewohner auf dem kleinen Platz von Andamarca – noch immer trieben sich ein paar Stinkgeier in der Ecke der Exekutionen herum – und sprach zu ihnen. Nicht alle verstanden das schnelle Küsten-Spanisch mit seinen Endverkürzungen, das der Leutnant sprach, aber selbstdiejenigen, denen ein Gutteil seiner Rede entging, begriffen, daß er ihnen eine Strafpredigt hielt. Weil sie mit den Terroristen zusammengearbeitet hatten, weil sie sich zu dieser Parodie eines Prozesses hergegeben hatten, weil sie dieses groteske, kriminelle Massaker verübt hatten.
    »Ganz Andamarca müßte verurteilt und bestraft werden«, wiederholte er mehrere Male. Dann hörte er geduldig, wenn auch ohne Zeichen von Verständnis, den Bewohnern zu, die es wagten, konfuse Entschuldigungen vorzubringen: Es sei nicht wahr, niemand habe etwas getan, alles sei ein Werk der Terroristen gewesen. Sie hatten sie bedroht, Señor. Sie hatten sie gezwungen, hatten ihnen die Maschinenpistolen und die Pistolen an den Kopf gehalten, ihnen gesagt, sie würden den Kindern wie Schweinen die Kehle durchschneiden, wenn sie nicht die Steine ergriffen. Sie widersprachen sich, sie unterbrachen sich, sie stimmten nicht überein, und am Ende beschuldigten und beschimpften sie sich gegenseitig. Der Leutnant schaute ihnen mitleidig zu.
    Die Patrouille blieb an jenem Tag in Andamarca. Am Nachmittag und am Abend durchsuchten die Angehörigen der Republikanischen Garde und die Gendarmen die Häuser und beschlagnahmten Schmucksachen, Gegenstände, die von Wert schienen, und die Beutel und kleinen Bündel mit Geld, die sie versteckt in Matratzen und in den doppelten Böden von Truhen und Kleiderschränken fanden. Aber kein Bewohner zeigte die Diebstähle beim Leutnant an.
    Am Morgen des zweiten Tages, als die Patrouille sich anschickte, unter Mitnahme der Gefangenen aufzubrechen, fing Don Medardo Llantac vor den Bewohnern Streit mit dem Offizier an. Der stellvertretende Gouverneur wollte, daß einige Männer der Patrouille im Dorf blieben. Aber der Leutnant hatte Befehl, mit allen in die Provinzhauptstadt zurückzukehren. Die Bewohner sollten ihren Schutz selbst organisieren, Streifen bilden.
    »Mit welchen Waffen, Leutnant«, sagte Medardo Llantac, sich heiser schreiend. »Wir mit Stöcken und die mit Gewehren? So sollen wir kämpfen?«
    Der Leutnant erwiderte, er werde mit seinen Vorgesetzten sprechen. Er werde versuchen, sie zu überzeugen, daß sie den seit fast einem Jahr unbesetzten Gendarmerieposten wieder eröffneten. Dann brach er auf, die zusammengebundenen Gefangenen im Gänsemarsch mit sich führend.
    Einige Zeit darauf begaben sich die Verwandten der neun Gefangenen nach Puquio, aber die Behörden konnten ihnen nicht

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