Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
hatte. »Vergib mir meine Sünden!« schrie er. »Ich will nicht so enden, verdammt nochmal.« Zusammengeduckt, auf allen vieren drängte er sich dicht an den Felsen, während er rechts und links und über seinem Kopf Steine, Erdklumpen, Felsbrocken in allen nur erdenklichen Formen vorbeirasen sah und spürte, wie der Fels unter dem Aufschlag der Geschosse erbebte, die ihn trafen und an ihm abprallten. Wie lange würde er standhalten? Er stellte sich einen riesigen Stein vor, der von der Höhe der Kordillere herabrollte und geradewegs auf den Felsen traf, der ihm Deckung gab, ihn in einer Sekunde zermalmte und ihn mit ihm. Mit geschlossenen Augen sah er seinen Körper in Brei verwandelt, in eine stinkende, blutige Masse aus Knochen, Blut, Haaren, Kleider- und Schuhfetzen, alles vermengt, im Schlamm begraben, bergab gerissen, bis zu, bis zu . . ., und erst in diesem Augenblick fiel ihm ein, daß diese Lawine, dieser Berg, der einstürzte und sich auflöste, mit seiner Ladung schwerer Geschosse genau auf das Lager zuraste. ›Der huayco , aha‹, gelang es ihm zu denken, immer noch mit geschlossenen Augen, wie Espenlaub zitternd. ›Er wird sie alle erschlagen da unten, nachdem er mich erschlagen hat.‹
    Als er die Augen öffnete, glaubte er zu träumen. Rechts von ihm, inmitten einer gewaltigen Staubwolke, stürzte ein Brocken von der Größe eines
     Lastwagens, mit Placken stiebenden Schnees den Abhanghinunter und riß alles mit sich, was er auf seinem Weg fand, bahnte sich eine
     Schneise, breit wie das Bett eines großen Flusses, und zog einen rasenden Wirbel aus Felsbrocken, Steinen, Steinchen, Holzstücken, Eis- und Erdklumpen hinter sich her, in dessen tosendem Durcheinander Lituma Tiere, Schnäbel, Federn, Knochen zu erkennen meinte. Der Lärm war ohrenbetäubend, und die Staubwolke verdichtete sich, jetzt hatte sie auch ihn eingehüllt. Er hustete, halb erstickt; er hatte Blut an den Händen, mit denen er am schlammigen Boden Halt suchte. ›Aha, der huayco , Lituma‹, wiederholte er bei sich, während er sein Herz in der Brust klopfen fühlte. ›Er bringt dich stückchenweise um.‹ In diesem Augenblick spürte er einen Schlag auf den Kopf, der ihn blitzartig an den Fausthieb erinnerte, der ihn als Jungen einmal bei einer Prügelei mit dem Chamäleon Panizo unter der Alten Brücke des Piura bewußtlos zu Boden gestreckt hatte und bei dem er ebenfalls Sterne, Monde und Sonnen gesehen hatte, wie jetzt, während er zusammensackte und alles ein Ende fand.
    Als er das Bewußtsein wiedererlangte, zitterte er immer noch, aber jetzt vor Kälte, die seine Knochen zum Klappern brachte. Es war dunkel; die Schmerzen, die er spürte, wenn er sich zu bewegen suchte, ließen ihn an ein Auto denken, das ihn überfahren und alles zermalmt hatte, was sich unter seiner Haut befand. Aber er war lebendig, und es war wunderbar, daß anstelle des Getöses und der Sturzflut aus Erde,Geröll und Felsbrocken jetzt diese eisige, friedliche Stille in der Welt herrschte. Besonders am Himmel. Einige Sekunden lang vergaß er seinen Körper, betört durch das Schauspiel: Tausende, Millionen von Sternen jeder Größe, die an dieser gelblich schimmernden Kuppel blinkten, die nur für ihn ihre Pracht zu entfalten schien. Nie hatte er einen so großen Mond gesehen, nicht einmal in Paita. Nie hatte er eine so bestirnte, eine so stille, eine so sanfte Nacht erlebt. Wie lange war er ohne Bewußtsein gewesen? Stunden, Tage? Aber er lebte, und er mußte sich bewegen. Wenn nicht, wirst du erfrieren, Freundchen.
    Er drehte sich langsam erst auf die eine, dann auf die andere Seite und spuckte aus, denn er fühlte, daß Erde seinen Mund verstopfte. Unglaublich, diese Stille, nach diesem entsetzlichen Lärm. Ein sichtbares Schweigen, das man hören konnte und das sich greifen ließ. Langsam löste sich die Starre seiner Glieder, und es gelang ihm, sich aufzusetzen. Er betastete sich von oben bis unten. Wann hatte er seinen linken Stiefel verloren? Anscheindend hatte er sich keinen Knochen gebrochen. Ihm tat zwar alles weh, aber nichts im besonderen. Er war mit dem Leben davongekommen, das war das Phantastische. Grenzte das nicht an ein Wunder? Nichts Geringeres als ein huayco war über ihn hinweggerast. Oder an ihm vorbei, genau gesagt. Und da war er, lädiert, aber lebendig. ›Wir Piuraner sind hartgesottene Burschen‹, dachte er. Und er empfand schon jetzt eitle Befriedigung bei dem Gedankenan jenen künftigen Tag, an dem er wieder in Piura wäre

Weitere Kostenlose Bücher