Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
zu.«
    Derjenige, der den Albino wachrüttelte, faßte ihn an der Schulter, ohne Feindseligkeit, mit einem gewissen Zartgefühl.
    »He, Huarcaya, he. Steh endlich auf.«
    »Es ist noch dunkel«, protestierte der Albino mit halblauter Stimme. Und in seiner Verwirrung fügte er etwas hinzu, was Lituma als Dummheit erschien: »Heute ist Sonntag, nur die Wachleute arbeiten.«
    Niemand lachte über ihn. Sie verharrten ruhig und stumm, und in der großen Stille war dem Korporal, als würden alle die wilden Schläge seines Herzens hören.
    »He, Huarcaya«, befahl – das Stachelschwein? der Pockennarbige? der kleine Bucklige? »Sei nicht so schlapp, steh auf.«
    Im Dunkeln streckten sich mehrere Hände der Pritsche entgegen und halfen dem Albino, sich aufzusetzen und aufzustehen. Er hielt sich mit großer Mühe aufrecht; ohne die vielen Arme, die ihn stützten, wäre er wie eine große Stoffpuppe in sich zusammengesackt.
    »Ich kann ja nicht mal stehen«, klagte er. Und er versuchte weiter, sie zu beschimpfen, wenn auch ohne jede Spur von Haß, lustlos, als ginge es ihm nur ums Prinzip:
    »Ihr Scheißkerle!«
    »Das ist der Kater, Huarcaya«, tröstete ihn jemand freundlich.
    »Du fühlst dich so, weil du nicht mehr du bist.«
    »Ich kann ja nicht mal laufen, verdammt«, protestierte der Albino betrübt. Seine Stimme klang ganz anders als vorher, als er in der Kantine damit geprahlt hatte, der Schlächter zu sein. Seine Stimme gehörte jetzt jemandem, der resigniert hat, dachte Lituma, einem, der sein Schicksal kennt und es akzeptiert.
    »Es ist der Kater«, wiederholte ein anderer, ihn aufmunternd. »Mach dir keine Sorgen, Huarcaya, wir werden dir helfen.«
    »Ich bin auch kurz davor, umzukippen, Herr Korporal«, erklärte Tomasito, ohne seinen Arm loszulassen. »Nur merkt man mir das nicht an, bei mir gehtder Rausch nach innen. Es ist ja auch nicht erstaunlich, oder? Wir werden an die fünf große Piscos getrunken haben.«
    »Hast du gesehen, daß ich recht hatte?« Lituma wandte ihm den Blick zu und sah seinen Amtshelfer in weiter Ferne, obwohl er den festen Griff seiner Hand am Arm spürte. »Diese Indios wußten tausend Dinge über den Albino und haben uns für blöd verkauft. Ich wette mit dir, daß sie auch wissen, wo er ist.«
    »Ich bin so voll, daß ich heute nacht nicht an dich denken kann«, sagte Tomás. »Nicht, daß ich irgendwas zu feiern hätte, aber mein Korporal ist in einen huayco geraten und nicht erschlagen worden. Stell dir das vor, Merceditas! Stell dir vor, ich wäre allein auf dem Posten in Naccos geblieben, ohne jemanden zu haben, dem ich von dir erzählen kann. Nur deswegen hab ich mich betrunken, mein Liebes.«
    Sie hielten ihn an den Armen gefaßt und schleppten ihn zur Tür der Baracke, ohne ihn zu mißhandeln, ohne ihn zur Eile zu zwingen. Die doppelte Reihe der Holzpritschen knarrte und geriet durch die in dem engen Raum dicht an ihr entlangstreifenden Gestalten in Bewegung. In den Lichtkegeln erschienen einen Augenblick, flüchtig, halb verborgen von den Schals oder den metallenen Helmen oder den tief herabgezogenen wollenen Ohrenmützen, die Gesichter derer, die sich eingefunden hatten. Lituma erkannte sie und vergaß sie.
    »Was für ein Anisgiftzeug hat mir das Arschloch von Dionisio gegeben«, klagte der Albino schwach, im vergeblichen Versuch, wütend zu werden. »Was für ein Gebräu hat die Hexe von Doña Adriana mir bloß in den Schnaps getan. Sie haben mich völlig fertiggemacht.«
    Alle blieben stumm, aber dieses ominöse Schweigen war vielsagend für Lituma. Der Korporal keuchte mit offenem Mund. Das war es gewesen. Die Grimassen, die Streitsucht und das verrückte Gehabe des Albino kamen nicht aus ihm selbst, sie kamen von dem dreckigen Zeug, das man ihm mit wer weiß welchen Tricks in der Kantine eingeflößt hatte. Deshalb redete er diesen Unsinn, deshalb war er so erregt. Deshalb hatte ihn niemand beachtet, als er sie provozierte. Zu Recht, zu Recht: wie sollten sie sich beleidigt fühlen, wenn sie selbst ihn in diesen Zustand versetzt hatten. Casimiro Huarcaya war für sie bereits eine halbe Leiche.
    »Es muß scheißkalt sein da draußen«, klagte Tomasito.
    »Nein, so kalt ist es nicht«, erwiderte jemand aus der Menge. »Eben gerade bin ich zum Pinkeln raus, und es war nicht kalt.«
    »Weil der Schnaps warm macht, merkt man’s nicht, Bruderherz.«
    »Bei deinem Kater wirst du weder Kälte noch sonst was fühlen, Huarcaya.«
    Sie trugen ihn, sie führten ihn, sie

Weitere Kostenlose Bücher