Tod in den Anden
nach Quenka zurückgekehrt, und nie werde ich dorthin zurückkehren.
Ich sage weder ja noch nein, und wenn ich versonnen und mit gekräuselten Lippen die Berge anschaue, dann liegt das nicht daran, daß die Fragen mir lästig sind. Sondern daran, daß viel Zeit vergangen ist. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir glücklich oder unglücklich waren. Eher glücklich in der ersten Zeit, solange ich glaubte, Langeweile und Routine seien das Glück. Timoteo bekam Arbeit im Bergwerk Santa Rita, und ich kochte für ihn, wusch ihm die Wäsche, und alle hielten uns für Mann und Frau. Im Unterschied zu heute gab es damals viele Frauen in Naccos. Und wenn Dionisio mit seinen Tänzern und seinen verrückten Frauen vorbeikam, dann wurden auch die Frauen von Naccos halb verrückt. Ehemänner und Väter peitschten ihnen die Rücken blutig, damit sie sich nicht unzüchtig benahmen, aber sie liefen ihm trotzdem hinterher.
Was hatte er, daß sie sich von einem aufgedunsenen Säufer derart betören ließen? Berühmtheit, Legende, Geheimnis, Fröhlichkeit, prophetische Gabe, großeKorbflaschen mit aromatischem Pisco aus Ica und einen prachtvollen Schwanz. Was wollt ihr mehr? Er war bekannt wie ein bunter Hund im ganzen Hochland, kein Markt, kein Fest, keine Totenwache eines angesehenen Bewohners in den Ortschaften von Junín, Ayacucho, Huancavelica und Apurímac fanden ohne ihn statt. Besser gesagt, ohne sie. Denn Dionisio zog damals mit einem Anhang von Musikern und Tänzern aus Huancayo und Jauja umher, die um nichts in der Welt von seiner Seite wichen. Und mit dieser Handvoll verrückter Weiber, die am Tag kochten und in der Nacht wie von Sinnen waren und die schrecklichsten Dinge taten.
Erst wenn das Gefolge von Dionisio am Ortseingang erschien, seine Trommeln, Quena-Flöten und Charangos anstimmte und den Boden mit seinem Fußgestampfe erzittern ließ, begann das Fest. Auch wenn die Feuerwerkskörper schon explodiert waren und der Geistliche seine Gebete gesagt hatte – ohne Dionisio gab es kein Fest. Überall wurden sie angeheuert, ständig waren sie von einem Ort zum anderen unterwegs, trotz ihres schlechten Rufes. Schlechter Ruf, weshalb? Es hieß, sie trieben schmutzige Dinge und seien Ausgeburten des Teufels. Sie würden Kirchen niederbrennen, die Statuen von Heiligen und Jungfrauen köpfen und neugeborene Kinder rauben. Das waren vor allem die bösen Zungen der Geistlichen. Sie waren eifersüchtig auf Dionisio und rächten sich für seine Beliebtheit, indem sie ihn verleumdeten.
Als ich ihn das erste Mal sah, liefen mir heiße und kalte Schauer über den ganzen Körper. Er verkaufte Pisco aus Fässern, die von Maultieren getragen wurden, auf dem damaligen kleinen Platz von Naccos, wo heute das Büro des Unternehmens ist. Er hatte zwei große Bretter auf zwei Böcke gelegt und ein Plakat aufgehängt: ›Hier ist die Kantine.‹ ›Kein Bier, kein Zuckerrohrschnaps, Jungs. Lernt trinken!‹ predigte er den Bergleuten. ›Laßt euch den reinen Traubenschnaps aus Ica schmecken, er vertreibt die Sorgen und bringt den glücklichen Menschen zum Vorschein, der in dir steckt.‹ ›Lerne dein Tier kennen!‹ Es war der Nationalfeiertag, und es gab Musikkapellen, Kostümwettbewerbe, Zauberer und Tänzer mit Blechrasseln. Aber ich konnte keine der Vergnügungen genießen; obwohl ich es nicht wollte, lenkten mich meine Füße und mein Kopf zu ihm. Er war jünger, aber nicht sehr viel anders, als er heute ist. Halb dick, halb schwammig, mit tiefschwarzen Augen, krausem Haar und dieser Art zu gehen, halb hüpfend, halb stolpernd, die er immer noch hat. Er bediente die Gäste, und zwischendurch tanzte er und steckte alle mit seiner Fröhlichkeit an. ›Jetzt ein Maultiertreiberlied‹, und sie folgten ihm, ›Der Umzug‹, und sie gehorchten ihm, ›Jetzt ist der huaynito an der Reihe‹, und sie stampften mit den Füßen, ›Die Eisenbahn‹, und sie bildeten eine riesige Schlange hinter ihm. Er sang, sprang, hüpfte, spielte das Charango, die Quena-Flöte, prostete, schrie, ließ die Tschinellen scheppern, bearbeitete die Trommel.Stunden um Stunden, ohne je müde zu werden. Stunden um Stunden, in denen er sich die Masken des Karnevals von Jauja auf- und absetzte, bis ganz Naccos sich in einen einzigen Wirbel aus betrunkenen und glücklichen Menschen verwandelt hatte: niemand wußte noch, wer er war, wo der eine begann und wo der andere aufhörte, wer Mann, wer Tier, wer Mensch, wer Frau. Als es in einem bestimmten Augenblick des
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