Tod in den Wolken
selbstverständlich.
«Mehr denn je…? Bei Gott, ich wüsste gern, welche Grillen in Ihrem Hirn herumgeistern!»
«Grillen! Mein lieber Japp, das ist nicht nett.»
Fournier reichte dem kleinen Belgier respektvoll die Hand.
«Ich wünsche Ihnen einen guten Abend und spreche Ihnen meinen verbindlichsten Dank für Ihre reizende Gastfreundschaft aus. Also werden wir uns morgen früh in Croydon treffen?»
«Ganz recht.»
«Hoffen wir, dass uns unterwegs nicht jemand ermordet!»
Die beiden Beamten brachen auf. Hercule Poirot aber rührte sich, als sei er festgewurzelt, eine halbe Stunde lang nicht vom Fleck. Endlich atmete er tief durch, beseitigte jede Spur von Unordnung, leerte die Aschenbecher und stellte die Stühle in Reih und Glied. Dann nahm er von einem Nebentischchen eine Zeitschrift, die er durchblätterte, bis er auf die gesuchte Seite stieß. «Zwei Sonnenanbeter», stand dort als Überschrift. Und weiter: «Gräfin Horburg und Mr Raymond Barraclough in Le Pinet.»
Hercule Poirot betrachtete die beiden lachenden Menschen im Badeanzug, die Arm in Arm vor der Kamera des Fotografen gestanden hatten.
«Man müsste auch in dieser Richtung seine Fühler ausstrecken», murmelte der kleine Mann.
Er hatte schon die Idee, wie das zu machen war.
9
Am folgenden Tag war das Wetter so herrlich, dass selbst Poirots empfindlicher Magen nicht aufbegehrte, als das Flugzeug, das um 8.45 Uhr pünktlich Croydon verließ, sie über den Kanal trug. Außer ihnen saßen noch acht andere Passagiere in dem Abteil, und der Beamte der Pariser Sûreté nutzte die Reise, um einige Versuche anzustellen. Dreimal zog er ein kleines Stück Bambus aus der Tasche und setzte es an den Mund, dabei immer in dieselbe Richtung zielend. Einmal beugte er sich hierzu um die Ecke seiner Rückenlehne, einmal hielt er den Kopf leicht seitwärts gedreht, und das dritte Mal kehrte er aus dem Toilettenraum zurück. Stets aber merkte er, wie der Blick irgendeines Mitreisenden ihn in sanftem Erstaunen musterte; ja, bei seinem letzten Versuch waren sogar sämtliche Augenpaare auf ihn gerichtet.
Entmutigt sank Fournier in seinen Sessel, und auch Poirots vergnügtes Schmunzeln heiterte ihn nicht auf.
«Sie finden es komisch, nicht wahr? Aber Sie geben hoffentlich zu, dass man die Versuche machen muss.»
«Ohne weiteres. Ich bewundere aufrichtig Ihre Gründlichkeit, mon cher. Sie spielen die Rolle des Mörders mit dem Blasrohr, und das Ergebnis ist eindeutig: Jedermann sieht Sie.»
«Nicht jedermann. »
«Nein, in einem gewissen Sinn nicht. Bei jeder Gelegenheit gibt es irgendwen, der Sie nicht sieht, was für einen erfolgreichen Mord jedoch nicht ausreicht. Sie müssen natürlich sicher sein, dass niemand Sie sehen wird.»
«Und das ist unter gewöhnlichen Bedingungen unmöglich», sagte Fournier. «Ich halte daher meine Theorie aufrecht, dass außergewöhnliche Bedingungen vorhanden gewesen sein müssen – der psychologisch richtige Moment! In jenem Moment wurde jedermanns Aufmerksamkeit mathematisch genau von etwas anderem gefesselt. Sind Sie nicht meiner Meinung, Monsieur Poirot?»
Der kleine Belgier zögerte kurz.
«Ja und nein. Ich glaube wie Sie, dass ein psychologischer Grund vorhanden gewesen ist, weshalb niemand den Mörder sah. Aber meine Ideen laufen in eine andere Richtung als die Ihren. Ich fühle, dass in diesem Fall die unmittelbar ins Auge fallenden Tatsachen täuschen können. Schließen Sie Ihre Augen, mon cher, anstatt sie weit zu öffnen. Benutzen Sie die Augen des Verstandes, nicht jene des Körpers. Lassen Sie die kleinen grauen Zellen in Aktion treten… lassen Sie es deren Aufgabe sein, Ihnen zu zeigen, was sich tatsächlich ereignete.»
Fournier starrte den Sprecher verdutzt an.
«Ich verstehe nicht recht, Monsieur Poirot.»
«Weil Sie aus Dingen, die Sie gesehen haben, Schlüsse ziehen. Nichts kann indes so irreführen wie die Beobachtung.»
Der Franzose machte eine hilflose Geste. «Ich gebe es auf, Monsieur Poirot. Ich begreife Sie nicht.»
«Unser Freund Giraud würde Sie drängen, meine Schrullen nicht zu beachten. ‹Los, tun Sie etwas›, würde er sagen. ‹Im Lehnstuhl sitzen und denken, das ist die Methode eines alten Mannes, der sich auf dem absteigenden Ast befindet.› Aber ich behaupte, dass ein junger Hund oft so hitzig ist, dass er die Fährte überrennt.»
Nach diesen Worten schloss Hercule Poirot die Augen, vermutlich, um nachzudenken. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass er fünf
Weitere Kostenlose Bücher