Tod in der Marsch
schweiften Christophs Gedanken kurz ab.
Bei diesem Wetter hätte er ohnehin keine Chance mehr, quer durch das ganze Land
heim nach Kiel zu kommen. Es war jetzt früher Nachmittag. In Kürze würde die lange Dämmerung einsetzen. Und der Wind, dieser teuflische Wind, der den Schnee
in Wirbeln vor sich hertrieb, hatte schon längst über dem flachen Land jene
Schneeverwehungen geschaffen, die den Winter in diesen Breitengraden so
unberechenbar machten. Niemand konnte sagen, wo sie auftraten und die Straßen
unpassierbar werden ließen. Daher war es auch trotz aller Anstrengungen
unmöglich, alle Wege so zu räumen, dass es ein ungehindertes Fahren gestattete.
Der Schnee, dieser verdammte Schnee … Als hätte er
eine Seite in seinem Gehirn umgeblättert, war er wieder im Thema. Das Motiv …
dieses verdammte Motiv. Sie hatten immer noch kein Motiv.
Das Geheimnis lag hier, in diesem Raum, in dem Zimmer
mit den schmutzigen Wänden, der schlichten Büroeinrichtung, dem fahlen
Neonlicht und den fünf Menschen, die die Ereignisse der jüngsten Zeit an diesem
Heiligabend hier zusammengeführt hatte.
Christoph stützte sich mit beiden Händen auf der
Fensterbank ab. Er beugte sich vor und berührte mit der Stirn das kühle Glas
der Fensterscheibe.
Plötzlich knallte es. Es war, als würde eine Bombe
explodieren. Die enge Haut der Seifenblase, die das Geheimnis umschlossen
hatte, war auseinander gesprengt worden. Es war ganz einfach.
Warum sieht man das Naheliegende, das Logische einfach
nicht?, fragte er sich selbst.
Christoph holte tief Luft, räusperte sich und sagte
dann, ohne sich umzudrehen, in die Stille des Raumes hinein: »Herr von
Dirschau, Sie sind es gewesen! Sie haben Anne Dahl und ihre Tochter ermordet!«
Er ging auf von Dirschau zu und wollte ihm erklären,
wie er zu dieser Erkenntnis gekommen war, als der Gutsbesitzer laut aufstöhnte.
Er kam ein wenig aus seinem Stuhl hoch und griff sich ans Herz. Dann fiel er
wie ein nasser Sack in sich zusammen. Sein verzerrtes Gesicht war aschfahl.
Mommsen war als Erster bei ihm und konnte den Mann mit
Hilfe von Mehmet Yildiz gerade noch auffangen, bevor er auf dem Fußboden
aufschlug.
»Schnell«, sagte Christoph, »wir brauchen einen Arzt.«
Er eilte zum Telefon und forderte über die Zentrale einen Notarzt an.
Von Dirschau lag auf dem Fußboden. Mommsen hatte ihm
den obersten Kragenknopf gelockert. Schweiß perlte auf dem jetzt kalkweißen
Gesicht. Der alte Mann atmete ganz flach.
Der junge Kriminalkommissar fühlte den Puls. Er war
kaum wahrnehmbar. Die Augenlider flatterten unruhig. Zäh verstrichen die
Minuten, während sie auf die medizinische Hilfe warteten.
Bedrückendes Schweigen stand im Raum.
Endlich hörten sie eilige Schritte im Flur. Die Tür
wurde aufgestoßen, und mehrere Männer zwängten sich in den Raum, an der Spitze
Dr. Hinrichsen.
Mit einem Blick erfasste der Arzt die Situation,
beugte sich zu von Dirschau herab, klappte kurz ein Augenlid auf, prüfte
routiniert den Pulsschlag und öffnete dann seine Tasche.
»Würden Sie den Raum bitte verlassen«, forderte er die
Anwesenden auf.
Große Jäger setzte zu einer Erwiderung an, aber
Christoph nickte nur und schob seinen Kollegen aus dem Büro.
Der Oberkommissar hatte sich eine Zigarette
angezündet, während er aufgebracht hin und her lief. Mommsen lehnte gegen die
Flurwand, Christoph wippte leicht auf den Zehenspitzen.
Große Jäger blieb vor ihm stehen.
»Das verstehe ich nicht. Wie kommst du plötzlich
darauf, dass es von Dirschau war?«, wollte er wissen.
Christoph sah ihn müde an.
»Wir hatten eine Denkblockade.« Es klang fast ein
wenig kleinlaut.
Drei Augenpaare sahen ihn neugierig an.
»Von Dirschau hat zugegeben, den Golfschläger, der
unzweifelhaft die Tatwaffe ist, blutverschmiert an Yildiz weitergegeben zu haben,
verbunden mit dem Auftrag, diesen zu reinigen. Er hat behauptet, das Blut würde
von erschlagenen Mäusen herrühren.«
Wie zur Bestätigung nickte Mehmet Yildiz.
»Somit ist für uns auch die unbestrittene Tatsache
erbracht, dass der Schläger blutverschmiert war, als Yildiz ihn entgegennahm.
Hierin stimmen die Aussagen der beiden Männer überein. Ich gehe also davon aus,
dass dies damit auch der Wahrheit entspricht.«
»Natürlich hätte Yildiz – rein theoretisch – den
Schläger weisungsgemäß säubern können, um ihn dann als Tatwaffe zu nutzen und
erneut zu reinigen. Aber das wäre eine zu große Duplizität gewesen. Als mir
diese Tatsache
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