Tod in der Walpurgisnacht
lange, sehnsüchtige Umarmung, sondern mehr ein Begrüßungsritual.
»Dich habe ich ja eine ganze Weile nicht gesehen«, sagte er.
»War Verwandte besuchen.«
Sie hörte selbst, wie sie plapperte, während die Frage, die ihr am meisten unter den Nägeln brannte, unausgesprochen blieb. Die Frage nach dem Zettel im Briefkasten. Es war ihr fast gelungen, sie zu verdrängen, doch als sie aus Kalmar und Hjortfors zurückgekommen war, schrie der Satz sie förmlich an:
»Ich weiß, wer du bist!«
»Hast du nicht Lust, heute Abend zu mir zu kommen?«, fragte er, und ein Lächeln umspielte immer noch seine Lippen.
Er hatte nette Grübchen in den Wangen, wenn er lächelte. Und schöne Augen. Irgendwie fröhlich.
»Wenn es nicht zu spät wird. Ich kriege erst noch Besuch, aber danach können wir was machen«, sagte sie mit einem etwas unbehaglichen Gefühl im Bauch.
Andererseits wollte sie ihn wirklich gern sehen. Sie wollte einfach glauben, dass er es nicht gewesen war, der ihr den Zettel in den Kasten gesteckt hatte.
»Okay. Und wer kommt, wenn man fragen darf?«, fragte er.
Ist er eifersüchtig?, fragte sie sich und lachte.
»Eine Kollegin, der ich ein Kleid nähe. Du kennst sie doch, Fresia Gabrielsson.«
Er nickte und war zufrieden über diese Antwort.
»Komm doch zu mir rauf, wenn sie gegangen ist, wir werden nur kurz das Kleid anprobieren. Ich melde mich dann«, sagte sie, und er fand die Idee ausgezeichnet.
Sie hatte einen Plan. Er sollte den Zettel lesen, und sie wollte sehen, wie er reagierte. Ob er sich verriet.
Es war auf jeden Fall nicht normal, anderen Leuten solche Nachrichten zu schicken, befand sie, als sie die Treppen hinauflief. Seit sie von Hjortfors zurück war, war sie guter Dinge und voller Schwung.
In der Wohnung stand die Luft. Hilda öffnete das Küchenfenster. Das Tageslicht glitzerte in den Glasobjekten auf dem Fensterbrett. Sie ließ ihre Schlüssel in die massive Schale aus der Glasfabrik Ruda fallen. Sam, dachte sie und glitt mit den Fingerspitzen über das grobe Relief auf der Außenseite der Schale. Sam, der eine Begabung für Glas hatte.
Sie schürzte die Lippen, und es wurde ihr warm ums Herz. Die Zeit war gerast, seit sie aus Hjortfors zurückgekehrt war. Achtzehn Jahre lang war sie nicht dort gewesen, doch nun sollte diese Zeit nachträglich ausgefüllt werden, und das nicht nur mit schönen Erinnerungen.
Jedes Mal, wenn sie daran dachte, was Sam mitgemacht hatte, wurde ihr eiskalt, und es war, als würde sich die ganze Welt verändern. Sie hatte ihm versprochen, niemandem davon zu erzählen. Nicht jetzt zumindest. Wenigstens war er nicht mehr allein, und das tat gut, hatte er gesagt.
Sie würde Britta-Stina und Robert erst einmal nicht erzählen, dass sie in Hjortfors gewesen war. Sam und sie brauchten Zeit, und sie wollte nicht, dass sich die Fragen und Ansichten anderer Menschen dazwischendrängten.
Zu Walpurgis würde sie wieder hinfahren.
Fresia hielt die Arme ausgestreckt. Hilda hatte Stecknadeln im Mund und raffte den Stoff ein wenig, während sie das Oberteil anpasste.
»Die Farbe ist wunderschön«, sagte Fresia.
Hilda trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk mit ihrem sehr viel geübteren Blick.
»Du hattest so recht mit dem Stoffgeschäft in Kalmar«, fuhr Fresia fort. »Vielleicht solltest du umsatteln und Kleider entwerfen. Es gibt nicht viele mit einer solchen Begabung.«
Hilda versuchte, mit den Stecknadeln im Mund »Danke« zu sagen.
»Vielleicht müsstest du dich nicht einmal für einen Beruf entscheiden«, redete Fresia weiter. »Erst könntest du Ärztin und Schneiderin gleichzeitig sein. In ein paar Jahren, wenn du dich spezialisiert und mehr Erfahrung mit der Arbeit in der Klinik hast, ist es auch nicht mehr so anstrengend, und dann hast du vielleicht sogar Lust auf noch etwas anderes. Man weiß schließlich nie!«, warf sie ganz entspannt mal einen Blick in Hildas Zukunft.
Hilda nickte und nahm die letzte Nadel aus dem Mund.
»Aber hier ist auch nicht alles Gold, was glänzt, wie bei jeder Arbeit. Als Schneiderin oder Designerin hat man sicher mit unzufriedenen Kunden zu tun, die das Ergebnis kritisieren, obwohl das Problem eigentlich ihr Körper ist.«
»Von der Sorte bin ich nicht«, sagte Fresia. »Ich bin nur dankbar.«
Sie lachten. Die Schneiderin in Lund, bei der sie den Nähkurs gemacht hatte, hatte immer streng darauf hingewiesen, dass es absolut tabu sei, auch nur eine Andeutung über den Körper oder die Figur der
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