Tod in der Walpurgisnacht
schwere Glockenblumen, die auf dünnen Stängeln zu beiden Seiten des aufgeklappten Bauches standen.
Wieder verspürte Hilda den Impuls, Veronika zu fragen, ob sie sich daran erinnerte, wie vor vielen Jahren eine Trage hereingerollt worden war. Eine junge Frau, die kurz darauf an massivem Blutverlust gestorben war.
Vielleicht erinnerte sie sich sogar an ein kleines Kind im Schlepptau. Ein Mädchen.
Doch die Frage kam Hilda nicht über die Lippen, dazu waren zu viele Leute im Saal – die OP -Schwester, die Anästhesistin, die Krankenschwestern.
Sie hatte herausgefunden, dass Elof Tingström, der auch in der Krankenakte ihrer Mutter genannt wurde, inzwischen pensioniert war und auf Mysingsö wohnte. Es war ein gutes Stück, dorthin zu radeln, aber sie konnte ihn ja auch anrufen. Das war jedoch nicht so einfach, denn was erwartete sie eigentlich von ihm? Und was meinte sie, würde Veronika berichten können?
Vielleicht nicht mehr, als schon in der Krankenakte stand. Und dann würde sie sich augenblicklich noch leerer fühlen.
Am Wochenende wollte sie nach Samuel suchen. Allein die Tatsache, dass sie das vorhatte, gab ihr mehr Energie. Sie würde ganz systematisch ein paar Leute anrufen, die ihn kannten, sie würde nicht aufgeben.
Niemand konnte vom Erdboden verschluckt werden, man hinterließ immer Spuren.
Aber die Spuren konnten natürlich ins Nichts führen. Man kann verschwinden, das musste sie jetzt zugeben, wenn sie an die Geschichte der Krankenschwester Tina dachte.
Hilda war aus irgendeinem Grund neugierig auf alles, was mit dieser Tina zu tun hatte. Es war, als hätten Tina und sie etwas gemeinsam. Als wären sie beide auf irgendeine Weise voller Geheimnisse, als würden sie einander verstehen, wenn sie sich mal zufällig begegneten.
Doch das waren natürlich nur Phantasien. Was wusste sie schon von Tinas Leben?
Sam lebte – sie weigerte sich, etwas anderes zu glauben. Wenn er nur nicht dem Alkohol verfallen war, dachte sie. Man rutschte schnell aus der schützenden Struktur der Gesellschaft heraus und wurde zum Außenseiter und heimatlos.
War er das? Ein Herumtreiber?
Es dauerte ewig. Sie starrte in die Wunde, verfolgte jeden einzelnen Schritt der Operation und versuchte sich zu entspannen. Veronika wirkte völlig unberührt und arbeitete routiniert weiter.
Am Morgen hatte sie eine SMS bekommen, dass jemand versucht habe, sie zu erreichen; er hatte aber keine Nachricht hinterlassen. Sie hatte das Handy nicht klingeln hören. Vielleicht war sie im Badezimmer gewesen? Wer könnte das gewesen sein? Es wollte ihr ja wohl kaum jemand um Viertel vor sieben am Morgen einen günstigeren Handyvertrag aufschwatzen, oder? Ob es Fredric Lido gewesen war, der sie von einer unbekannten Nummer aus angerufen hatte?
Die Tür zum Operationssaal glitt auf. Ein Mann in grünem Kittel, blauer Mütze und ohne Mundschutz kam heraus. Er löste die Anästhesistin ab, die am Kopf des Patienten saß. Hilda erkannte ihn, sah aber gleich wieder weg.
»Ah, hier geht es wahrscheinlich voran«, sagte er fröhlich.
»Hallo Jens«, begrüßte Veronika ihn. »Stimmt, wir haben nicht mehr viel zu machen«, bestätigte sie, und man konnte hören, dass sie einander gut kannten.
Hilda warf einen raschen Blick über die Abtrennung am Kopfende des OP-Tischs.
»Doktor Lundborg und Doktor Glas, sehe ich«, fuhr er mit einem Blick auf den Narkosebericht fort.
Es klang ironisch. Er hob den Kopf und begegnete Hildas Blick.
»Doktor Glas«, wiederholte er mit einem etwas süffisanten Lächeln und ohne den Blick zu wenden.
Es war der Nachbar, der ein paar Etagen unter ihr wohnte. Hilda konnte sich nicht länger hinter der Anonymität verstecken. Sie wurde rot, sah schnell hinunter in die offene Wunde und hoffte, dass ihre Verlegenheit hinter dem Mundschutz nicht zu deutlich war.
Sie hatte Hjalmar Söderbergs Erzählung über Doktor Glas nicht gelesen. Wahrscheinlich, weil sie sich das immer wieder anhören musste, hatte sie aus Protest nie zu dem Buch gegriffen, auch wenn es natürlich zur Allgemeinbildung gehörte, es gelesen zu haben. Aber schließlich hatte sie noch das ganze Leben Zeit, sich Allgemeinbildung anzueignen. Sie wurde oft gefragt, ob sie mit Tyko Gabriel Glas verwandt sei, diesem Doktor aus dem vorigen Jahrhundert, der sich in eine Patientin verliebt und es schließlich für moralisch am besten hält, deren Mann, den Pastor Gregorius, zu ermorden. Das wusste Hilda immerhin schon, und so gesehen besaß sie auch
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