Tod in Florenz
daran gewöhnt. Das Mädchen allerdings nicht. Es konnte keinen großen Spaß machen, im Winter in dieser verkommenen, trostlosen Fabrik zu arbeiten, besonders wenn sie leer war. Hatte er das schon einmal gedacht? Nein … das hatte mit Bertis Werkstatt zu tun, als er überlegt hatte, daß sie sicher nicht wartend im Regen stehen würde – nun, sie hatte eine Lösung gefunden, weil Tina da war. Hatte sie bei Moretti auch eine gefunden? Sie hatte dort nicht einmal Berti gehabt, der sie zu einer warmen Mahlzeit in die Stadt fuhr. Berti hätte sie natürlich abholen können, aber nein, Niccolini sagte, sie sei nicht zum Essen gekommen. Merkwürdig, daß sie es vorher nie ausgelassen hatte und deshalb keiner wußte, daß sie manchmal zu Moretti ging. Es wäre schließlich naheliegend gewesen, daß Berti sie mitnahm. Welche andere Lösung hatte sie wohl für diesen einen Tag gefunden … Da war Robiglios Haus auf der anderen Straßenseite … Ihm fiel das Gesicht ein, das er dort am Fenster gesehen hatte, und er versuchte sich die blasse, undeutliche Gestalt vorzustellen, wie sie winkte … alles zu weit hergeholt. Mußte etwas Einfacheres sein, etwas Offensichtlicheres. Was, wenn sie vor dem Essen umgebracht worden war? Das konnte es sein, und in dem Fall war Berti vielleicht hingegangen und wußte also Bescheid … Nun, die Autopsie würde Licht in diesen Punkt bringen. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß er etwas übersah, etwas, das ihm gleich zu Anfang durch den Kopf gegangen war, genau wie der Gedanke, daß Berti, wenn er seine Werkstatt abschloß und ihr keinen Schlüssel gab … Nein. Es war irgendwo, aber er konnte es nicht greifen. Es kam zweifellos wieder, wenn er sich nicht bemühte, sich daran zu erinnern. Wenigstens konnte er morgen bei Berti vorbeifahren und ihn direkt fragen, ob er das Mädchen normalerweise abgeholt und zum Restaurant gefahren hatte, wenn sie bei Moretti arbeitete. Er mochte ja verschlagen sein, aber der Maresciallo hatte das Gefühl, er würde es nicht wagen, ihm ins Gesicht zu lügen, wenn er ihm die richtige Frage stellte. Hatte sie ihn auch geneckt? Wahrscheinlich war er ihr zu alt gewesen. Der junge Brigadiere wäre zweifellos in den Genuß ihres ganzen Charmes gekommen, wenn Niccolini nicht immer dabeigewesen wäre – und noch eine seltsame Sache! Niccolini war doch nicht von gestern, er konnte doch unmöglich auf ihre Tricks hereingefallen sein. Klar, daß nicht, und doch hatte er wie der junge Corsari darauf bestanden, daß alles ganz harmlos und liebenswert gewesen sei … »Neckt ihn ein bißchen, aber nichts Ungebührliches.« Aber etwas war ganz eindeutig ungebührlich. Zum einen konnte man sich kaum vorstellen, daß nicht irgendein Mann bei ihr hatte landen können. Sie hatte sicher schon einen Liebhaber, in ihrem Alter – es sei denn, sie war enttäuscht worden, gerade in einem Tief und rächte sich jetzt dafür. Aber nein, man hätte ihr die Bitterkeit angemerkt – und der junge Corsari hätte es inzwischen auch gewußt, wo er doch so lange schon mit den Mädchen befreundet war. Und da er ihr Verhalten so eifrig verteidigte, wäre er der erste gewesen, der dies als Entschuldigung angeführt hätte. Er war auch nicht auf den Kopf gefallen.
»Aber irgendwo stimmt da etwas nicht … dann bin ich wohl auf den Kopf gefallen, daß ich nicht dahinterkomme!«
»Salva!«
»Was?«
Abrupt kam er zu sich und merkte, wie eine fast durchscheinend wirkende Heilige ihn mit offenem Mund vorwurfsvoll ansah. Er blinzelte und blickte um sich, als seien die glänzenden Kronleuchter hoch über ihm eben angegangen.
»Salva …«, murmelte seine Frau und errötete vor Verlegenheit. »Was ist denn nur los mit dir? Erst starrst du seit zwanzig Minuten jeden finster an, und jetzt führst du auch noch Selbstgespräche …«
»Tue ich das? Na und? Das hat doch wohl in diesem Chaos keiner gemerkt.«
»Viele haben es gemerkt. Und du hast nicht mal einen Blick auf nur ein einziges Bild geworfen.«
Wenn man nach der käsigen Heiligen mit dem halboffenen Mund gehen konnte, hätte er nicht viel verpaßt, dachte der Maresciallo, wenn er es auch nicht sagte. Er unternahm einen heldenhaften Versuch, den Hals zu recken und sich auf die Zehenspitzen zu stellen, und erhaschte über die Menge hinweg und an ihr vorbei einen Blick auf vergoldete Rahmen. Ehrlich gesagt hatte er nicht einmal gemerkt, daß die lange, umständliche Rede irgendwann zu Ende gegangen und er mit dem Rest davongeschwemmt worden
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