Tod in Florenz
getan werden müssen, und dabei haben fünfunddreißigtausend ihr Leben gelassen.
Aber haben Sie Geduld mit mir, Niccolini – Maresciallo Guarnaccia hier ist zu höflich, um es zu zeigen, sitzt da, ohne sich zu rühren –, aber ich sehe, daß Sie unruhig werden und glauben, hier will Sie womöglich einer mit seinen Kriegserlebnissen langweilen. Sie werden gleich merken, daß es nicht so ist. Wenn Sie diese Briefe verstehen wollen, dann müssen Sie verstehen, wie die Menschen damals gefühlt und gedacht haben. Die meisten Briefe sind gegen Robiglio gerichtet, der Rest gegen Moretti, und Sie glauben, die Schreiber seien vielleicht in zwei feindliche Lager geteilt, aber da irren Sie sich. Die Ziele mögen verschiedene sein, aber die Motive hinter den Attacken sind dieselben. Das müssen Sie verstehen. Es geht alles darauf zurück, was eines Nachts in dieser Stadt geschah. Eine Nacht, die in Robiglios und Morettis Familien alles veränderte. Sie haben sicher die Statue auf dem Marktplatz gesehen?«
Niccolini hörte auf, die Briefe in seiner Hand zu sortieren, und sah hoch.
»Den Partisanen?«
»Das ist Moretti, der Vater.«
»Ach ja? Aber der Name …«
»Pietro Moro, sein nom de guerre – obwohl sein richtiger Name auch dasteht, wenn Sie genauer hinsehen. Er nannte sich Pietro, aber weil es in der Gruppe zwei gab, die sich diesen Namen gewählt hatten, wurde der andere, er stammte aus dem Norden und war hellhaarig, Pietro Biondo, und Moretti, der dunkelhaarig war, Pietro Moro.«
»Morettis Vater war also ein Kriegsheld? Nun, das habe ich nicht gewußt.«
»Darüber wird aus verschiedenen Gründen nicht gesprochen, auch wenn es nicht vergessen ist. Was die Bezeichnung ›Kriegsheld‹ angeht, dahinter kann sich vieles verbergen. Es gab genügend Helden, die ich als echt bezeichnen würde, die sich freiwillig für andere geopfert haben, und Pietro war einer von ihnen, oder wurde am Ende einer. Aber manche waren nur Opfer der Umstände und wieder andere schlicht Hochstapler – es war verblüffend, wie viele Männer sich Partisanen nannten, als die Kämpfe erst vorbei waren, und sich eine neue Vergangenheit erfanden, nachdem sie in Mussolinis GNR gekämpft hatten. Die haben nach der Niederlage einfach ihre Uniform weggeworfen und sich für die Heimkehr ein rotes Halstuch umgebunden. Aber genug von ihnen. Unter den echten Partisanen gab es alle möglichen Typen, die Idealisten, die Unzufriedenen, die kleinen Delinquenten, die darin eine praktische Möglichkeit sahen, eine Weile unterzutauchen, und natürlich diejenigen, die sonst riskierten, eingezogen zu werden, um Mussolinis neuer Republik zu dienen oder nach Deutschland geschickt zu werden, um in Arbeitslagern zu sterben. Moretti, den Sie als Pietro kennen, gehörte zu den letzteren, aber er hatte zu dem Zeitpunkt auch guten Grund, seine Familie gern zu verlassen. Er und der junge Ernesto Robiglio waren in jenem Jahr beide zwanzig geworden, aber ihre Lebensumstände waren so verschieden wie ihre Charaktere. Robiglios Vater war glühender Faschist und Bürgermeister der Stadt. Der junge Ernesto wohnte zu Hause und studierte Jura an der Universität von Florenz. Ihre Fabrik stand an derselben Stelle wie heute, obgleich die heutigen Gebäude neu sind, da die alten durch die Bomben der Alliierten schwer beschädigt wurden.
Moretti – Pietro Moro – arbeitete für seinen Vater und seinen Onkel in ihrem Familienbetrieb, wie er heute besteht, aber damals stellten sie nur Drainagerohre und Dachziegel her. Jedenfalls fing der junge Pietro mit zwölf Jahren dort zu arbeiten an, und alles ging ein paar Jahre glatt, bis er sich mit Maria einließ, der Tochter seines Onkels, einem hübschen, plumpen kleinen Ding mit Lockenkopf und großen, unschuldigen Babyaugen. Aber sie war nicht ganz richtig, und das ist eine Tatsache. Man sah es an ihren Augen, die hübsch und sanft waren, aber eher wie die eines Tieres als eines Menschen … Sie kennen Tina, also wissen Sie, was ich meine. Als Kind war sie das Ebenbild ihrer Mutter, aber Sie haben ja gesehen, wohin es mit ihr gekommen ist, und ihrer Mutter, der Armen, ist es noch schlimmer ergangen, aufgrund der Dinge, die in jener Nacht geschehen sind.
Maria ist mit fünfzehn schon Männern nachgelaufen, die doppelt so alt und älter waren als sie. Dann ließ sie sich mit Pietro ein. Sie war sechzehn und er eben siebzehn. Und was die Sache noch schlimmer machte, sie waren Cousin und Cousine. Ich versuchte ihm deshalb die Sache
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