Tod in Florenz
anzubieten. Als er verschwunden war, ging ich zum Haupttor, aus dem eben ein junger Mann trat, den ich zwar nicht kannte, in dem ich aber den Arzt vermutete.
›Guten Abend, Dr. Frasinelli? Wie ich sehe, haben Sie meinen Problempatienten schon kennengelernt.‹ ›Den kleinen Jungen?‹ Ich schüttelte ihm ganz verwirrt die Hand. ›Er ist hier Patient?‹ ›In gewisser Weise ja – aber ich dachte, das wüßten Sie … Er ist hier geboren, und da man mir sagte, daß Sie seine Mutter behandelt haben, dachte ich, Sie hätten von ihm gehört.‹ ›Seine Mutter …? Aber wer – Sie meinen doch nicht Maria …?‹ ›Genau. Der traurigste Fall, der mir je untergekommen ist. Dann wußten Sie es also nicht? Tut mir leid, wenn ich Ihnen einen Schock versetzt habe. Sollen wir zum Reden in mein Büro gehen?‹ Ich folgte ihm wortlos. Es war tatsächlich ein Schock, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, warum. Ich mußte zugeben, daß ich diese Möglichkeit damals nicht bedacht hatte, als ich das wenige in meiner Macht Stehende für das traurige Wrack tat, das sie aus Maria gemacht hatten, auch wenn ich es logischerweise hätte tun sollen. Allerdings erwartete ich kaum, daß sie überleben würde, und in dem Chaos damals hatte man keine Zeit, an so abwegige Möglichkeiten zu denken, man kämpfte sich nur von einem Tag zum nächsten. Aber als wir uns dann im Büro des Doktors setzten, gewannen Signora Morettis Worte eine neue und klarere Bedeutung. ›Ich habe denen da oben gesagt … kein Deutscher wird je wieder einen Fuß …‹ Es war nicht nur so dahingesagt, wie ich geglaubt hatte, sie sprach von dem kleinen Jungen mit dem rotblonden Haar, einer lebenden Erinnerung an jene schreckliche Nacht.
Ich riß mich zusammen.
›Es tut mir leid. Ja, stimmt, Sie haben mir einen Schock versetzt. Jede Erinnerung an jene Nacht … Ich nehme an, das Kind ist …‹ ›Dem Geburtsdatum nach muß man es annehmen.‹ ›Mein Gott!‹ ›Er ist kein Einzelfall, wissen Sie.‹ ›Wahrscheinlich nicht. Dann stimmt es wohl, daß er jetzt fünf ist, wie er sagt.‹ ›Fünf Jahre und drei Monate.‹ ›Er ist sehr klein.‹ ›Es ist ein Wunder, daß er überhaupt lebt. Seine Mutter konnte ihn nicht stillen. Sie hat seine Existenz nie richtig wahrgenommen. Der arme kleine Kerl war in der ersten Zeit sehr schlecht dran, aber er ist ein Überlebenskünstler und intelligent dazu, obwohl er sich natürlich nicht normal entwickelt, wie unter diesen Bedingungen kaum anders zu erwarten.‹ ›Wer kümmert sich um ihn?‹ ›Alle und keiner. Meist ist er bei Constanza, der Köchin.‹ ›Die er Tanza nennt?‹ ›Genau.‹ ›Deshalb also … es war das erste, was mir an ihm auffiel, daß er mich mit den Augen eines Erwachsenen ansah.‹ ›Er hat nie ein anderes Kind gesehen.‹ ›Mein Gott! Aber hätten Sie denn nicht –‹ ›Hätte ich nicht was? Er gehört nicht hierher, soviel ist klar, doch ich wüßte nicht, wie ich den bürokratischen Knoten entwirren sollte, um ihn hier herauszubekommen. Und sollte es mir je gelingen, was glauben Sie, was ihm dann blüht? Eine andere Anstalt, in der er zwischen Hunderten anderer völlig unterginge und wahrscheinlich nicht überleben würde. Er hätte garantiert keine Chance herauszukommen und wenig Hoffnung, normal aufzuwachsen.‹ ›Dann wäre doch wahrscheinlich eine Adoption …‹ ›Adoption? Selbst wenn es noch nicht zu spät wäre – die Leute wollen neugeborene Babies, wenn sie sich zu einer Adoption entschließen, sie wollen keine kränklichen, unterentwickelten Fünfjährigen, unter anderem hat er auch noch ein schwaches Herz – gar nicht zu reden von den bürokratischen Schwierigkeiten, daß seine Mutter zwar lebt, aber unfähig ist, ihr Einverständnis zu geben. Außerdem sagen Sie mir bitte, wer das Kind eines SS-Vergewaltigers und einer Frau aus einer Irrenanstalt haben will.‹
›Sie haben natürlich recht. Entschuldigen Sie bitte. Sie haben es sicher schon versucht.‹ ›Das habe ich.‹ ›Die Sünden der Väter … Ich habe diesen Gedanken immer verabscheut, aber wenn man genauer darüber nachdenkt, ist es keine moralische Verurteilung, sondern eine Tatsachenfeststellung. Das arme Kerlchen. Was kann man da tun?‹ ›Ich hatte gehofft, daß Sie vielleicht helfen könnten.‹ ›Inwiefern?‹ ›Wie gesagt, er hat noch nie ein anderes Kind gesehen, aber er hat einen Halbbruder und eine Halbschwester.‹ ›Sie meinen …? Aber das sind die letzten, die ihn haben
Weitere Kostenlose Bücher