Tod in Florenz
etwas, das würde nur ein Irrer tun.
Der Maresciallo hielt in seinem Auf und Ab inne und drückte die Stirn an das kalte Glas des einzigen Fensters im Gang, das auf den Platz hinausging. Es war inzwischen fast dunkel geworden, und eine eisige Bö peitschte die ersten nassen Schneeflocken gegen die Scheiben, wo sie schmolzen und langsam herunterrannen. Unten auf dem beleuchteten Platz glänzte der Kopf des Partisanen dunkelorange. Der Körper des Maresciallo spannte sich, als er seine Tasse aufs Fensterbrett stellte und angestrengt und stirnrunzelnd hinunterblickte. An der Bronzefigur war etwas merkwürdig. Eine Art Plakat hing ihr um den Hals. Was darauf geschrieben stand, konnte der Maresciallo nicht lesen, aber als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, daß der Platz voller Menschen war. Er hatte sie vorher nicht bemerkt, denn sie standen fast reglos in großen Gruppen zusammen. Viele starrten zu den Fenstern des Reviers herauf. Hören konnte er nichts, was ihre Gegenwart noch bedrohlicher erscheinen ließ. Man konnte nicht wissen, wie lange sie schon da draußen im kalten Novemberdunkel standen, aber zweifellos waren die Schreiber der anonymen Briefe unter ihnen. Es konnten ebensogut auch jene dabeisein, die an einem warmen Sommermorgen auf eben diesem Platz gestanden hatten, als die Fliegen auf dem zerschundenen Leichnam Pietro Moros herumkrochen. Der Maresciallo erschauerte. Er hatte es für unwahrscheinlich gehalten, daß ein anderer als ein Irrer ein unschuldiges Mädchen zu vergewaltigen versucht und dann erdrosselt hatte, um anschließend den Vorsatz zu fassen, die Leiche in einen Brennofen zu stecken, aber einer da draußen unter dieser schweigenden, bedrohlichen Menge mochte durchaus ein Irrer sein. Da draußen, nicht hier drin. Moretti war bestimmt kein Irrer … wenn er auch drahtig war, so war er doch sehr zierlich. Wie hätte er ein großes, gesundes Mädchen umbringen können, ohne daß es ihr zumindest gelang, ihm vorher das Gesicht zu zerkratzen? Robiglio war viel kräftiger, ein Mann, der den schweren Niccolini beiseite gefegt hatte wie eine lästige Fliege. Aber das hieß, dem Capitano recht zu geben. Und die Vergewaltigung, oder der Versuch dazu? Er selbst hatte zu diesem glatten jungen Mann, Corsari, gesagt: »Jemand hat es nicht gut aufgenommen, von ihr auf die Weise geneckt zu werden, wie sie es getan hat …« Aber deswegen vergewaltigte und tötete ein normaler Mann noch lange nicht. Immerhin, Robiglio, der Faschist – die Dinge, die er während des Krieges getan hatte. Waren diese Dinge normal? Wo sollte man die Grenze ziehen?
Guarnaccia hatte wieder angefangen auf und ab zu gehen. Nun blieb er stehen und öffnete die Tür zu Niccolinis Büro. Er mußte sich Moretti noch einmal ansehen, wie um sich zu vergewissern. Leise schlüpfte er hinein und setzte sich in eine Ecke neben den Gummibaum. Der Capitano plagte sich geduldig und systematisch durch eine Reihe von Fragen, basierend auf Notizen, die er sich vorhin bei der Besprechung gemacht hatte. Es klang nicht so, als käme etwas dabei heraus. Die Atmosphäre war unverändert kühl und angespannt. Niccolini saß neben dem Capitano, und einer, seiner Leute hackte an einem kleinen Tischchen in der gegenüberliegenden Ecke schnell und mit zwei Fingern auf eine Schreibmaschine ein.
»Wie ist das Mädchen darauf gekommen? Hat sie etwas gesehen? Oder gehört?«
»Das Mädchen hat nichts damit zu tun. Wie sollte sie denn? Robiglio hat mich erst gestern gebeten, das Geld mitzugeben –«
»Und die anderen Male?«
»Es gibt keine anderen Male.«
Der Capitano wurde langsam ungeduldig.
»Wie war Ihre Beziehung zu Monika Heer?«
»Es gab keine Beziehung. Ich habe sie hin und wieder die Scheibe benutzen lassen, weiter nichts.«
»Stimmt es nicht, daß Sie regelmäßig zu Bertis Studio rübergegangen sind, wenn sie dort war, daß Sie Ihrer Schwester gesagt haben, Sie fänden das Mädchen attraktiv?«
»Nein.«
»Das hat Ihre Schwester aber Maresciallo Guarnaccia hier erzählt.«
»Meine Schwester ist nicht ganz normal. Außerdem sehe ich sie nie. Das war einmal, aber mir gefällt es nicht, wie ihr Mann sie behandelt, und meine Besuche verursachen immer Ärger.«
»Sie sagt aber, daß sie oft zu Ihnen kommt, donnerstags, wenn ihr Mann zum Billardspielen geht.«
»Das stimmt nicht. Ich sehe sie zweimal im Jahr, Weihnachten und Ostern. Ich kann es meiner Frau gegenüber und meiner kleinen Tochter nicht zumuten, sie
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