Tod in Lissabon
wohin er Mitte Juni 1955 erneut gegangen und wo er fast sechs Jahre geblieben war. Doch das war nun vorbei. In Angola herrschte Krieg, und die Wirtschaft war zusammengebrochen.
Felsen blickte zu dem ummauerten Garten auf der Südseite des Hauses. Eine seiner aktuellen Freundinnen, Patricia, die er als Einzige eingeladen hatte, stand neben Abrantes in einer Runde, die aus Pedro, Abrantes’ ältestem Sohn, Pica, Abrantes’ Frau, und den Monteiros, Picas Eltern, bestand. Abrantes hatte eine Hand in Patricias Kreuz, die andere um die Hüfte seiner Frau gelegt und beugte sich vor, um Pedro zu lauschen, der alle mit einer seiner ausführlichen Anekdoten bezauberte, die Felsen wahrscheinlich schon gehört hatte, ohne den Witz zu begreifen.
Er verspürte keinerlei Verlangen, sich unter seine Gäste zu mischen. Er war Pedros Brillanz gewohnt und konnte sie wie guten Brandy nur in Maßen genießen. Er sah sich nach Manuel um, dem zweiten Sohn, dem Jungen mit seinen Augen. Er entdeckte ihn in dem ummauerten Garten. Er stand vier Meter abseits der Gruppe, halb verdeckt, vielleicht auch absichtsvoll versteckt, im Schatten einer Bougainvillea, unbeachtet und unsichtbar für die anderen, als wartete er darauf, dass etwas passierte, das für ihn von besonderem Interesse war. Felsen hatte ihn bei einer anderen Party, zu der er eingeladen hatte, schon einmal so erlebt. Einige von Pedros Freunden hatten in der Nähe der Bougainvillea gestanden, darunter auch ein Mädchen mit blonden Haaren. Manuel hatte die Hand aus seinem Versteck gestreckt, ihren Kopf berührt und sie halb zu Tode erschreckt.
Während Pedro groß war, mit hellem Haar und braunen Augen, ausgestattet mit gesundem Selbstbewusstsein, ein Fußballspieler und Wortführer in seinen Wirtschaftsseminaren an der Lissabonner Universität, war der neunzehnjährige Manuel kleiner und dicker mit jetzt schon ausdünnendem, dunklem struppigem Haar. Sein Kinn ging übergangslos in den Hals über, Fettpolster zeichneten sich unter seinem Hemd ab, und egal wie groß er seine Hosen kaufte, sie kniffen unweigerlich im Schritt. Wie zum Ausgleich für sein schütteres Haupthaar hatte er einen prachtvollen Schnauzer, dicht, üppig und glänzend. Und natürlich die Augen, blau mit einem Stich Grün von seiner Mutter, und lange Wimpern. Sein größter Pluspunkt.
Manuel war ein trübsinniger Junge. Mehr als sein Bruder hatte er unter der Abwesenheit seiner Mutter gelitten. Die Schule war ihm eine Qual, seine Zeugnisse miserabel. Er konnte nicht gegen einen Fußball treten, ohne dabei den Boden umzupflügen, und die Erinnerung an seine Versuche im Rollhockey trieb den Leuten noch immer Lachtränen in die Augen. Er konnte noch nicht einmal von sich behaupten, besonders unbeliebt zu sein – er wurde nicht offen verschmäht, sondern schlicht übersehen.
Wenn sein Vater mit strenger Hand Strafen austeilte, was vor allem zur Zeugniszeit häufig der Fall war, traf es immer nur seinen Kopf oder Hintern, nie Pedros. Manuel hasste seinen Bruder deswegen nicht. Wie alle anderen mochte er ihn einfach zu gern, und sein Bruder trat immer für ihn ein. Auch seinen Vater hasste er nicht, doch um Auseinandersetzungen zu vermeiden, wurde er wachsam und verschlagen. Wirklich schwierig fand er nur den Umgang mit Frauen. Er wusste nicht, wie er mit ihnen reden sollte, fand nichts an sich, was sie interessieren könnte, und deshalb mochten sie ihn auch nicht. Trotzdem wollte er alles über sie erfahren, und damit konnte er ebenso gut in den Wäscheschubladen seiner Stiefmutter anfangen.
Bei diesen Erkundungen entwickelte Manuel eine pubertäre Leidenschaft, anderen nachzuspionieren. Es erregte ihn zu beobachten, ohne gesehen zu werden, und Informationen zu sammeln, von denen niemand ahnte, dass er sie hatte. Es gab ihm Macht über ihre Sorglosigkeit und lehrte ihn manches über die Menschen und Sex.
Seine erotische Erziehung begann mit dem Hausmädchen von nebenan und dem Chauffeur seines Vaters. Er hatte sich ins Nachbarhaus geschlichen, war von Zimmer zu Zimmer gegangen und hatte in Schubladen und Schränken gekramt, als er sie hereinkommen hörte. Er versteckte sich in der Wäschekammer und wartete darauf, dass sie wieder gingen, doch sie folgten ihm just dorthin. Er war sich nicht sicher, was er da eigentlich beobachtete, als der Mann und die Frau sanft miteinander balgten und dabei eigenartig gierige Geräusche von sich gaben. Er war damals erst zwölf. Doch als er den hochgerutschten Rock des
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