Tod in Marseille
das Wahlvolk bei Laune zu halten. Die Reden dagegen, die im Übersee-Club gehalten wurden, ließen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Die große Krise mit ihren Auswirkungen auf die Kaufkraft der Leute stand erst noch bevor. Der Verdrängungswettbewerb in der Industrie, bei Banken und Versicherungen war noch längst nicht auf seinem Höhepunkt angekommen. Dass die Krise überwunden werden würde, wie bisher noch jede nach dem letzten Krieg, stand außer Zweifel. Wann das aber sein würde und wer dann letzten Endes als Gewinner dastehen würde, ließ sich mit seriösen Mitteln nicht vorhersagen. Insofern war den beiden marxistischen Wirtschaftswissenschaftlern, die der Übersee-Club im letzten halben Jahr eingeladen hatte, durchaus zu glauben. Daran änderte auch nichts, dass deren Lösungsvorschläge ins Reich der Utopien gehörten. Fest stand aber auf jeden Fall, dass Gerd-Omme Nissen nicht zu den Verlierern gehören wollte. Seit Wochen schon wälzte er die unterschiedlichsten Überlegungen, wie er die Krise heil überstehen könnte, in seinem Kopf. Es gab Nächte, in denen er an nichts anderes mehr dachte, obwohl ergleichzeitig mit Freunden in einer Bar saß oder mit einer Gespielin im Bett lag. Dann aber hatte er zufällig bei seinem Anwalt einen Artikel in der Neuen Juristischen Wochenschrift in die Hände bekommen, der ihn fasziniert hatte.
Geschildert wurde ein Strafrechtsfall, der ihm interessanter erschien, je länger er darüber las.
In dem Artikel wurde am Beispiel des Falles Lucona erörtert, ob eine unvoreingenommene Wahrheitsfindung möglich ist, wenn ein Prozess von einem riesigen Medienecho begleitet wird. Diese juristisch sicher bedeutsame Frage interessierte Nissen allerdings nicht. Er war beim Lesen zunehmend fasziniert von dem Fall. Da hatte in Österreich jemand ein Schiff mit angeblich kostbarer Ware beladen und hoch versichert auf die Reise geschickt. Unterwegs war das Schiff durch eine Explosion auseinandergebrochen, und der Eigner hatte versucht, die Versicherungssumme zu kassieren. Es war ihm nicht gelungen. Die Versicherung war hellhörig geworden. Bei so großen Summen reagierten die schnell und gründlich. Das Ganze hatte in einem riesigen Skandal geendet. Politiker hatten sich umgebracht, Menschen waren ermordet worden, Minister mussten zurücktreten, und der Eigner landete schließlich vor Gericht und wurde verurteilt.
Was hatte der Mann falsch gemacht?
Diese Frage begann Gerd-Omme Nissen damals mehr und mehr zu beschäftigen. Er besorgte sich alle Unterlagen über den Fall, die er bekommen konnte, und vermied es dabei, Spuren zu hinterlassen. Es kam ihm selbst verrückt vor, aber er schrieb falsche Namen auf Bibliotheksscheine, und Recherchen im Internet betrieb er nicht von seinem Büro aus. Er sprach mit niemandem darüber, dass er zum Hobbyforscher geworden war. Und irgendwann, nachdem er alles gelesen, alle Informationen gegeneinander abgewogen hatte, standen für ihn die zwei Gründe fest, durch die der Versicherungsbetrug im Fall Lucona schiefgegangen war: Der Schiffseigner hatte zu viele Mitwisser gehabt.Und er war schon vor dem Betrug ein Mensch gewesen, der Beziehungen bis in die Politik hinein zu seinen Gunsten genutzt hatte. Dieser Mensch hatte immer einen zweifelhaften Ruf gehabt, sodass es einfach gewesen war, ihn zu verdächtigen, auch als noch kaum ein Anfangsverdacht vorgelegen hatte. Er war einfach durch sein skandalbehaftetes Leben verdächtig.
An dem Abend, als Nissen zu der Erkenntnis gekommen war, dass es diese zwei Gründe waren, die im Fall Lucona den Erfolg des Versicherungsbetrugs verhindert hatten, war ihm leicht ums Herz geworden. Er war aufgestanden, hatte sich ein Glas Calvados eingeschenkt und war an das große Fenster des Wohnraums getreten, um in den Park zu sehen. In der Dämmerung standen die alten Bäume dunkel gegen den Himmel. Über dem Rasen lag eine leichte Nebelschicht, die dichter werden und am Morgen Tau zurücklassen würde. Über dem Nebel hing ein großer, weißer Mond. In der Nacht würde er die Nebelhörner auf der Elbe hören. Er liebte den Garten und den Fluss und die Stadt, in der er zu Hause war.
Zu viele Mitwisser. Krumme Beziehungen zu Politikern. Ein schlechter Ruf. Nissen trank den Calvados in kleinen Schlucken. Als er das Glas geleert hatte, begann er, die Unterlagen über den Fall Lucona zu beseitigen. Er wusste genug. Er brauchte sie nicht mehr. Niemand müsste sie bei ihm sehen.
Danach begann für ihn eine Phase
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