Tod in Marseille
intensiven Nachdenkens. Die drei Fragen, die zu klären waren, lagen auf der Hand:
Sollte er sich auf das auch bei größter Vorsicht und Umsicht riskante Spiel eines Versicherungsbetrugs einlassen? Flog die Sache auf, war klar, was folgte: Er würde für viele Jahre ins Gefängnis wandern und wäre ein erledigter Mann, auch wenn er irgendwann wieder frei herumliefe. Davor würde ihn der beste Anwalt nicht bewahren können. Sein Ruf wäre für immer ruiniert, ebenso wie der Ruf seiner Familie, den er hoch achtete. Es wäre möglich, dass seine Eltern gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt wären, die sie wohl nur schwer überstehen könnten.
Als er mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, beschloss er, die Frage, ob er überhaupt aktiv werden sollte, an das Ende dieser Überlegungen zu stellen. Wenn die beiden anderen Fragen geklärt waren, würde sich eine bessere Beurteilung des Risikos vornehmen lassen.
Die zweite Frage betraf das Mitwisserproblem: Es war klar, dass er den Untergang des Schiffes nicht allein inszenieren konnte. Jemand musste den Sprengstoff am oder im Schiff anbringen, und das durfte nicht er selbst sein; abgesehen davon, dass er von der Wirkung von Sprengstoff überhaupt nichts verstand, war natürlich klar, dass überprüft werden würde, ob und wann er sich auf der Mariella aufgehalten hatte. Er ging nur selten persönlich an Bord. Mit seinen Kapitänen verkehrte er über Satellit. Auf diese Weise nahmen sie seine Aufträge entgegen und klärten Probleme, die an Bord anfielen und die ihre Kompetenzen überschritten. Meist handelte es sich dabei um die Höhe anfallender Reparaturkosten oder die Neueinstellung von Besatzungsmitgliedern, wenn jemand wegen Krankheit oder Suff ausgefallen war. Er brauchte eine Person, deren Erscheinen an Bord kein Aufsehen erregen würde; jemanden, der immer mal wieder an Bord war. Dieser Jemand durfte nicht aus Hamburg sein. Man müsste ihn entweder in Panama – die Mariella fuhr unter panamaischer Flagge – oder in einem der Häfen anheuern, die die Mariella auf ihrer Route anlief. Und er konnte niemanden damit beauftragen, diese Person zu finden. Das musste er selbst übernehmen. Also entfielen auffällige Flüge nach Panama oder Montevideo. Es kam nur ein Hafen in Frage, in dem er selbst sich zur Vorbereitung der Sache aufhalten konnte, ohne Verdacht zu erregen: Marseille.
Einen Hafen, der für seine Pläne besser geeignet wäre, gab es nicht. Hamburg war Partnerstadt von Marseille. Die Mariella hatte schon oft dort im Hafen gelegen, Container abgeladen oder aufgenommen. Er selbst war vor ein paar Monaten zum Mitglied der Hamburger Delegation ernannt worden, die dasgemeinsame Fest zum Bestehen der fünfzigjährigen Partnerschaft der beiden Städte im nächsten Jahr vorbereiten sollte. In diesem Zusammenhang war er bisher zwei Mal in Marseille gewesen. Er war nicht deshalb in die Delegation gewählt worden, weil er ein intimer Freund des Bürgermeisters oder irgendwelcher anderen Politschranzen gewesen wäre, sondern aufgrund seines guten Namens und des guten Rufs seiner Reederei. Zur Vorbereitung der Veranstaltung würde er Marseille besuchen können, ohne besonderen Verdacht zu erregen. Und dort könnte er ganz offiziell mit Menschen zusammentreffen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Hafen und den Schiffen zu tun hatten.
An diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, gönnte sich Nissen eine Pause. Marseille. Er mochte die Stadt mit ihrem Kult um Zinedine Zidane, mit ihren schwarzen Huren und dem lächerlichen Ehrgeiz, es an Größe und Bedeutung mit dem Hamburger Hafen aufnehmen zu wollen. Im Alten Hafen hatte jahrelang eine Motorjacht gelegen, die ihm gehörte. Sie war erst vor ein paar Monaten verkauft worden. Glücklicherweise hatte er sie verkaufen können, kurz bevor die große Krise eingesetzt hatte. Ein verrückter Russe hatte ihm so viel Geld geboten, dass er unmöglich hätte nein sagen können. Der Russe hatte sich, soweit man hörte, kurz darauf erschossen; wahrscheinlich, um einem Leben im Gefängnis, wie es sein Landsmann Chodorchowski seit Jahren führen musste, zu entgehen. Dieser Russe hatte doppelt so viel gezahlt, wie die Jacht wert gewesen war, weil seine Freundin sich in die Mahagoni-Pantry verliebt hatte.
Der Zusammenbruch des Containergeschäfts war dann plötzlich und radikal gekommen. Da war es gut gewesen, zumindest eine Weile noch über genügend Geld für die laufenden Kosten verfügen zu können. Der Gang
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