Tod in Marseille
Hitler und die beinahe bedingungslose Zustimmung der Generation seiner Großväter zu dessen antijüdischer, antibolschewistischer, kriegerischer Haltung in den Sinn gekommen. Zwar hatte man, anders als der Düsseldorfer Industrie-Club Anfang der dreißiger Jahre, Hitler nicht eingeladen, an der Alster zu sprechen. Aber der letzte Vortrag, im Dezember 1933 – bevor der Übersee-Club sich aufgelöst hatte –, wurde zum Thema Die Erbbelastung des deutschen Volkes und die Verhütung erbkranken Nachwuchses gehalten. Peinlich, das Ganze. Aber da im Übrigen die politischen Entscheidungen, die für die Hamburger Reeder wichtig waren, zuerst in Bonn und später in Berlin getroffen wurden, konnte man die Hamburger Politiker getrost nicht ganz so wichtig nehmen, wie die es gern gehabt hätten. Besonders amüsant in dieser Beziehung, und hier lächelte Nissen unwillkürlich, waren die neuerdings an der Stadtregierung beteiligten Grünen. Nette Leute ohne Format, die versuchten, Rollen zu spielen, die sie nicht ausfüllen konnten …
Nein, in seinem Verhältnis zur Politik hatte er sich nichts vorzuwerfen.
Schwieriger könnte es werden, wenn es um sein Privatleben ginge. Es war nicht so, dass er etwas zu verbergen gehabt hätte, und die moralischen Maßstäbe, auch in seinen Kreisen, hatten sich ja gelockert; jedenfalls, solange ein bestimmtes Verhalten oder Verhältnis nicht öffentlich wurde. Man tolerierte Scheidungen, Nebenfrauen, ausgefallene Hobbys. Man wusste von ihm, dass er eine Vorliebe für schwarze Frauen hatte, und mancher seiner Freunde und Geschäftspartner hatte schon davon profitiert. Über die Wege, auf denen diese Gespielinnen zu ihmkamen, wusste man nichts oder wollte man nichts wissen. Gerd-Omme Nissen war nicht verheiratet. Er hatte das Recht, sich auf seine Weise zu amüsieren, solange die Öffentlichkeit nicht daran teilhatte.
Konnte ihm diese seine Vorliebe in der Sache, die er möglicherweise plante, zum Nachteil gereichen?
Die Mariella war nie auf einer Afrika-Route unterwegs gewesen. Sie würde auch diesmal nicht nach Afrika fahren. Die Frauen, mit denen er sich abgab, kamen illegal nach Europa. Sie landeten auf Lampedusa, in Andalusien, auf Korfu, auf den Kanaren, in Marseille. Sie kamen in kleinen Booten oder auf Containerschiffen über das Meer, deren Reedereien darüber hinwegsahen, dass manche Kapitäne einen Nebenverdienst brauchten. Gut ausgebildete Seeleute waren Mangelware, und mancher Reeder sah ihnen einiges nach. Nissen ging davon aus, dass auf seinen Schiffen noch nie eine schwarze Frau illegal nach Europa gekommen war. Aber er kannte den Markt, und er wusste, wo die Aufkäufer ihre Ware anboten. Marseille war ein solcher Umschlagplatz, und er hatte vorgehabt, sich bei seinem nächsten Aufenthalt dort ein wenig umzutun. Konnte es ihm schaden, wenn er dabei bliebe?
Vielleicht wäre es besser, sich in diesen Dingen vorläufig ein wenig zurückzuhalten.
Hatte er alles gründlich durchdacht? Dann wäre es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Er wusste, dass diese Entscheidung sein Leben verändern würde, so oder so. Es blieb ein Restrisiko, wenn auch nur ein geringes.
Nissen hatte das leere Glas beiseitegestellt und war noch einmal an das große Fenster getreten. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Er brauchte eine Weile, um Bäume, Rasen und Himmel voneinander unterscheiden zu können. Sehr weit hinten funkelten die Lichter der Flugzeugwerft. Er sah den Fluss nicht, aber er spürte, dass er dort unten lag. Dies war seine Landschaft, seine Heimat, der Flecken Erde und Wasser, zu demer gehörte; und zwar auf eine andere Weise als die allermeisten übrigen Einwohner der Stadt. Er und seinesgleichen gaben der Stadt ihr Gesicht. Sie gaben den Menschen Arbeit und der Stadt ihren Ruhm in der Welt. Dafür lohnte es sich, auch einmal ein Risiko, ein geringes Risiko, auf sich zu nehmen. Er wollte weiter zu denen gehören, die den Ruhm der Stadt mehrten.
Er musste lächeln. Große Worte! Niemals hätte er vor anderen so gesprochen. Zurückhaltung war das, was ihn und seinesgleichen auszeichnete. Worauf es aber ankam, war, sich seines Wertes bewusst zu sein.
An diesem Abend, noch immer am Fenster stehend und in die Dunkelheit hinaussehend, wo er inzwischen die Baumkronen vom Himmel unterscheiden konnte (man musste nur beharrlich sein, dann fügte sich alles nach seinen Wünschen), hatte Gerd-Omme Nissen den Entschluss gefasst, eines seiner Schiffe, die Mariella, teuer zu
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