Tod in Wolfsburg (German Edition)
will Sie auf keinen Fall kritisieren oder so was in der Art. Ich hatte
nur angenommen, dass …« Sie warf ihre Locken zurück. »Na ja … Oder ich kriege
die wichtigen Sachen einfach nicht mit? Das will ich auf keinen Fall
ausschließen.«
Johanna lächelte. Die junge Polizistin hatte angenommen, dass die
erfahrene BKA -Expertin ihre ganzen
Vernehmungskünste ausspielen und bei der Zeugenbefragung von Beginn an so
richtig vom Leder ziehen würde, um dann in null Komma nichts wichtige neue
Erkenntnisse zu gewinnen und den Fall in wenigen Stunden aufzuklären oder
zumindest ganz locker in eine entscheidende Phase überzuleiten.
»Sie meinen, ich habe zu viel belangloses Zeug geplaudert und Dinge
abgefragt, die niemanden aufs Glatteis führen, geschweige denn zu verdächtigen
Aussagen verleiten können?«
»Das hätte ich so nicht auszudrücken gewagt.«
Johanna löste den Sicherheitsgurt. »Wissen Sie, vielleicht ist das
Schlimmste, was die Mädels angestellt haben, ihr nächtliches Umherflanieren und
das Konsumieren der Drogen und jeder Menge Alkohol gewesen, was sie natürlich
einem Erwachsenen gegenüber nicht zugeben wollen – verständlicherweise«, sagte
sie und legte die Hand auf den Türgriff. »Vielleicht war Karen tatsächlich nur
zu Hause und im Unterricht das nette, gescheite und harmlose Mädchen – der
Liebling der Oma und Lehrer –, aber in Wirklichkeit hatte sie es faustdick
hinter den Ohren und verstand es fabelhaft, ihr zweites Gesicht zu tarnen. Und
vielleicht hat Philippa einfach nur an der Bushaltestelle gestanden – mit zwei
Dutzend anderen Schülern –, und Frau Milbert bringt in ihrem ganzen Kummer
einiges durcheinander. Diese Option, von der Kollege Reinders ausgeht, darf ich
nicht aus den Augen verlieren. Das ist das eine.« Sie stieg aus.
Beran erhob sich ebenfalls und sah sie über das Wagendach hinweg
fragend an. »Und was ist das andere?«
Es gibt zu viele Vielleichts, dachte Johanna, behielt diesen
Gedanken aber ebenso wie ihr Gespräch mit dem Staatsanwalt in Braunschweig
zunächst lieber für sich.
»Ich lerne die Mädchen gerade in einer ersten Gesprächsrunde kennen.
Ich nehme sozusagen Tuchfühlung auf. Dabei war es mir vorhin wichtig, die
beiden in Sicherheit zu wiegen und zunächst keine überraschenden Fragen zu
stellen oder besonders forsch vorzugehen. Welche Dynamik sich daraus ergibt, und
wie die anderen nun auf uns reagieren, werden wir sehen.« Außerdem führe ich
Vernehmungen meist intuitiv, fügte Johanna lautlos hinzu. Manche halten dieses
Vorgehen für planlos. Milde ausgedrückt.
Beran nickte langsam. »Glauben Sie, dass die Mädchen mit unserem
Kommen rechnen? Dass ausgerechnet heute drei von fünf fehlen, mit denen wir vor
Ort sprechen wollen, finde ich schon merkwürdig.«
»Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Philippa von Nelli über
uns informiert worden ist, und die anderen Mädchen dürften inzwischen ebenfalls
Bescheid wissen. Das heißt aber gar nichts. Es ist immer interessant, wenn die
Polizei unterwegs ist und Fragen stellt.«
Das Grundstück war von einem Jägerzaun eingefasst. Beran schob das
Tor auf, und sie traten in einen winzigen Vorgarten. Johanna ging voraus und
steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke. Es war nasskalt. Die Haustür
wurde nur wenige Sekunden nach dem Klingeln geöffnet. Als hätte jemand dahinter
gewartet und durch den Spion gelinst. Eine schmale Frau mit spitzem Gesicht und
hellbraunem halblangem Haar, die Johanna auf Mitte vierzig schätzte, stand vor
ihnen. Ihr Blick schwankte zwischen unverhohlener Skepsis und Neugierde, und
Johanna hätte ihren letzten Schokoriegel darauf verwettet, dass die Frau schon
aus Prinzip eine begeisterte Spionguckerin war. Als sie Berans Uniform
registrierte, runzelte sie die Stirn.
»Ja, bitte? Was wünschen Sie?«
»Frau Flint?«, fragte Johanna und wartete auf das zustimmende
Nicken, bevor sie sich vorstellte. »Ich möchte kurz mit Ihrer Tochter sprechen.
Vor einigen Monaten gab es ein tragisches Unglück, bei dem eine
Klassenkameradin von Betty ums Leben gekommen ist.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Frau Flint, ohne ihr Stirnrunzeln
einzustellen. »Wie furchtbar.«
»Es haben sich im Nachhinein noch ein paar Fragen ergeben, über die
wir mit einigen Schülern aus Kreuzheide erneut reden müssen und …«
»Aber Betty kann doch gar nichts dazu sagen.«
Johanna lächelte aufmunternd. »Vielleicht doch. Sie kannte Karen
ganz gut und …«
»Ja? Das ist mir
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