Tod mit Meerblick: Schleswig-Holstein-Krimi
oder?«
»Ich habe schon Pferde kotzen sehen«, erwiderte Christ unbeeindruckt. »Deshalb möchte ich nichts ausschließen. Und wer weiß – vielleicht war die Aktion ja das Kamikaze-Kommando eines Lebensmüden?«
»Gegenvorschlag: Was halten Sie von einer Handgranate?«
»Auch das ist nicht auszuschließen. Heutzutage kommt man über das Internet und die richtigen Beziehungen doch an alles. Da ändert auch das schärfere Waffengesetz nichts dran.« Christ zuckte die Schultern. »Aber das muss ich euch ja nicht erzählen, Kollegen.«
»Wohl wahr«, nickte Petersen. »Wurden schon Tote oder Verletzte gefunden?«
»Bislang nicht.«
»Ich muss mal nachdenken«, murmelte Wiebke an Petersen gewandt. »Bin gleich zurück.« Sie ließ ihn stehen und marschierte am Bistro vorbei zum Holmer Siel. Das Dröhnen der Generatoren wurde leiser, und sie begann die Stille zu genießen.
Links lag das Gebäude der DLRG. Von hier aus wurde tagsüber der Badestrand überwacht. Um diese Zeit schien das Gebäude zu schlafen. Auch das hier sitzende Amt für Land- und Wasserwirtschaft Husum war um diese Zeit unbesetzt. Holmer Siel 1, so lautete die Adresse auf dem Schild neben dem Hauseingang. Die Fenster waren dunkel, und kein Fahrzeug parkte davor.
Wiebke hielt sich weiter links und erklomm die Stufen zum Deich. Oben angekommen, drehte sie das Gesicht in den Wind, schloss die Augen und atmete tief durch. Nun schien sich das Gebäude in ihrem Rücken in die Dünen zu schmiegen. Die Strandkörbe standen verlassen auf dem grünen Deich, in ein paar Metern Entfernung brandete das Meer an die Küste. Der Wind peitschte Wellen an den Strand, und Wiebke blieb stehen und genoss die würzige Luft. Es herrschte Flut, und sie richtete den Blick in die Ferne, konnte die Halligen, die man von diesem Punkt aus bei Tageslicht sehen konnte, aber nicht ausmachen. Im Norden, also in ihrem Rücken, lag der Beltringharder Koog, ein eingedeichtes Gebiet der Nordstrander Bucht. Da es sich dabei um ein Brut- und Rastgebiet für Seevögel handelte, durfte der Bereich nicht betreten werden. Rechts von Wiebke lag der rund achthundert Meter lange Deich. Sie wandte sich um und konnte das Licht der starken Arbeitsscheinwerfer sehen, die in den wolkenverhangenen Nachthimmel strahlten. Es sah bizarr aus, fast so, als wäre dort ein Ufo gelandet.
Wiebke drehte dem Geschehen den Rücken zu und dachte nach, während ihr Blick hinaus auf das tobende Meer glitt. Von hier oben aus schien alles in weiter Ferne, sogar die Probleme mit Tiedje rückten in den Hintergrund. Sie versuchte, sich auf die Geschehnisse unten am Holmer Siel zu konzentrieren und ließ die Einsamkeit, die sie hier umgab, auf sich wirken.
Kein Wattwanderer, kein Spaziergänger mit Hund, nichts, hämmerte es in ihrem Kopf.
Ein technischer Defekt hätte genauso gut tagsüber auftreten können. Ob die Sache dann aber so glimpflich abgelaufen wäre, blieb zu bezweifeln. Wahrscheinlich hätte es Tote und Verletzte gegeben, denn am Tag war das Möwennest ein beliebtes Ausflugsziel – nicht nur bei Urlaubern. War es also nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass der Gastank nachts explodiert war? Da Gasanlagen im Deutschland strengsten Sicherheitsbestimmungen unterlagen, schied ein technischer Defekt eigentlich so gut wie aus. Wiebke war sicher, dass jemand nachgeholfen hatte.
Wiebke blieb stehen und blickte sich um. Kein Mensch hielt sich hier in der Nacht auf, bis auf das ältere Ehepaar, das im Wohnmobil auf dem Parkplatz campieren wollte, was aber streng genommen verboten war. Der Wind drehte und wehte Wiebke die Kapuze vom Kopf. Sie zog sie wieder auf und ließ den Blick in Richtung Deich gleiten. Dort hinten herrschte Totenstille.
Der Täter hatte keine Menschenleben gefährden wollen und nicht damit gerechnet, dass die Holländer im Wohnmobil den Parkplatz als ihr Nachtrevier auserkoren hatten. Dass sie dort genächtigt hatten, musste er billigend in Kauf genommen haben.
Einen Unfall schloss Wiebke zunächst einmal aus, blieb also das Attentat.
Wiebke dachte daran, dass es den Harmsens finanziell nicht besonders gut ging. Hatte sich jemand an der Flüssiggasanlage zu schaffen gemacht, um anschließend eine große Summe von der Versicherung zu kassieren?
Der Regen hatte nachgelassen, und nun frischte der Wind noch einmal auf. Wiebke ließ die Naturgewalten auf sich einwirken. Dann machte sie kehrt und stieg die Stufen herab. Es hatte ihr gutgetan, sich die frische Meeresluft um die
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