Tod oder Reben: Ein Wein-Krimi aus Südtirol (German Edition)
auf der Straße zu halten. Schließlich die schicksalhaften Sekunden, in denen er eine Entscheidung treffen musste. Er hatte damals Angst gehabt, zurückzulaufen und ein zerschmettertes Kind vorzufinden. Aber er hatte auch Skrupel empfunden, einfach weiterzufahren. Den Ausschlag hatte Niki gegeben, der ihn angebrüllt hatte: «Nichts wie weg! Gib Gas!» Beide hatten sie zu viel Alkohol getrunken, ihr Verstand war vernebelt und der Mut zum Risiko übersteigert gewesen. Nachdem er sich entschieden hatte, war alles zu spät, gab es kein Zurück mehr. Mit Tränen in den Augen war er weitergebrettert, hatte mit überhöhter Geschwindigkeit die Flucht angetreten.
Bei realistischer Betrachtung trug das Mädchen die Hauptschuld. Wie konnte es in stockfinsterer Nacht vor einem rasch näher kommenden Auto die Straße überqueren und dann plötzlich stehen bleiben? Sein Sportwagen hatte einen lauten Motor gehabt und eine infernalische Auspuffanlage. Das Mädchen hätte schon taub sein müssen, um ihn zu überhören. Natürlich war er zu schnell unterwegs gewesen und seine Reaktionszeit durch den Alkohol womöglich verzögert. Aber auch sonst hätte er den Unfall nicht vermeiden können, davon war er überzeugt. Aus den Zeitungsberichten wusste er, dass das Mädchen sofort tot gewesen war. Es wäre also vergebens gewesen, wenn er gestoppt hätte, um zu ihm zurückzulaufen, die Polizei und die Rettung zu verständigen. Aber diese Überlegungen nahmen ihm nicht den Druck, der seitdem auf seiner Seele lastete. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, ein Mädchen hatte wegen ihm sterben müssen. Heute wäre es eine junge Frau, die ihr Leben immer noch vor sich hätte.
Ernst Steixner dachte an den Baron, den er beauftragt hatte, den Erpressungsversuch irgendwie abzuwenden. Es war ihm unerklärlich, wie ihn die Vergangenheit nach so vielen Jahren hatte einholen können. Niki Steirowitz war als Beifahrer der einzige Mitwisser gewesen, hatte ihn sogar zur Fahrerflucht überredet. Aber Niki lebte nicht mehr, seit seinem Tod hatte sich Steixner sicher gefühlt.
Er hatte keine Ahnung, wie ihm der Baron helfen konnte, aber der Mann hatte einen souveränen Eindruck gemacht, auch wenn er so gar nicht seiner Vorstellung eines Privatdetektivs entsprach. Der Baron war kultiviert, wirkte ruhig und entspannt, vielleicht etwas exzentrisch und zerstreut. Sicher war er jemand, der jeder körperlichen Auseinandersetzung aus dem Weg ging. Außerdem brauchte er einen Gehstock. Aber im Gespräch hatte Steixner zu ihm Vertrauen gefasst. Er glaubte, dass es der Baron irgendwie schaffen würde, die Angelegenheit zu regeln. Auch war er zuversichtlich, dass dieser sein Geheimnis für sich behalten würde. Und wenn nicht? Steixner dachte lange darüber nach. Eine Schwester kam herein, um seinen Blutdruck zu messen, Temperatur, Puls und den Sauerstoffgehalt seines Blutes. Dann war er wieder alleine. In ihm reifte ein Entschluss. Noch war er nicht so weit, aber er hoffte, dass er den Mut aufbringen würde.
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Selten hatte er sich so verwirrt gefühlt, war es ihm so schwergefallen, seine Gedanken zu sortieren, logische Schlussfolgerungen zu ziehen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Emilio saß scheinbar entspannt im Liegestuhl vor Phinas Haus, im Schatten eines Sonnenschirms. Aber in seinem Kopf ging es rund. Wobei sich wieder einmal zeigte, dass es nicht gut war, wenn Emotionen ins Spiel kamen. Das geschah bei ihm höchst selten. Die meisten Menschen waren ihm ziemlich egal. Wenn er ihnen notgedrungen eine größere Aufmerksamkeit schenken musste, stellte sich im Regelfall heraus, dass sie entweder dumm waren oder ausgesprochen unsympathisch. Sehr häufig kam beides zusammen. Bei den meisten Kriminalfällen, mit denen er in der Vergangenheit zu tun hatte, war er sich vorgekommen wie ein Insektenkundler, der unter der Lupe seltsame Gliederfüßler studierte, mit widerlichen Augen, unappetitlichen Mundwerkzeugen und höchst befremdlichen Verhaltensmustern. Irgendwann hatte er sie dann einfach aufgespießt. Aber diesmal war alles anders. Trotz ihrer bemerkenswerten erotischen Ausstrahlung war Valerie Trafoier dabei sein kleinstes Problem. Prinzipiell war er willensstark genug, solchen Reizen zu widerstehen – außer er entschied sich ganz bewusst dagegen, was er im Falle der Bozner Weinhändlerin durchaus in Erwägung zog. Nun war er wirklich kein Insektenkundler, das fehlte noch, aber ihm schoss dennoch der
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