Tod und Leidenschaft (German Edition)
den Bach runtergehen. Einbrüche, Schlägereien, Überfälle … Uns fehlen Männer an allen Ecken und Enden, weil sie ja alle jagen sind. Der Teufel hole diesen Hurensohn!“
Harris unterdrückte ein Grinsen bei dem Gedanken, welchen Hurensohn Abberline wohl gerade meinte.
Er kannte das Problem nur zu gut. Die Sache wuchs ihnen über den Kopf. Ein Memo von ganz oben jagte das andere. Wie Herbstlaub segelten diese Papiere auf die Schreibtische im Yard. Sogar Ihre Majestät kabelte an die Verwaltung und an die Polizei. An die Minister und Beamte.
Die Opfer von Gewalttaten drängten sich in den Korridoren und hielten vorbeieilende Polizisten an, um eine Anzeige zu erstatten, doch man musste sie vertrösten. Wieder und wieder.
Nicht mal dazu reichten die Kapazitäten mehr. Und dann wunderte man sich ganz oben?
„Wenn die Menschen nicht mal mehr auf uns zählen können, wenn ihnen etwas angetan wurde … Wer kann ihnen dann verdenken, wenn sie auf die Straße gehen?“
Harris sparte sich eine Antwort, denn Abberline war gerade in Fahrt und da sagte man besser gar nichts.
„Sollen wir sie zusammenprügeln, oder was? Sind wir in Russland, dass wir die Menschen niederkartätschen, wenn sie uns nicht passen?“
Eine heiße Woge schwappte über ihm zusammen, als hätte jemand einen Topf kochendes Stew über ihm ausgeleert.
„Was ist?“ Abberline waren offensichtlich Harris aufgerissene Augen aufgefallen und die wächserne Bleiche, die sein Gesicht plötzlich überzog.
„Was ist los mit ihnen, Mann?“ Er war noch in seinem Zorn befangen und übertrug ihn fürs Erste auf Harris. Doch schon bei seiner nächsten Frage, war seine Stimme weicher und einfühlsamer.
„Ist irgendetwas mit ihnen, Harris? Sie sehen ja fürchterlich aus …“
„Sir! Wie viele Russen der gehobenen Schichten mag es in London geben?“
Nun war es an Abberline, verdutzt dreinzuschauen.
„Wie meinen?“
„Wie viele adelige Russen mag es in London geben?“
„Herrgott, Harris … Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Wieso denn auch?“
Harris Zunge glitt über seine Unterlippe und sein Daumennagel schabte über seinen Manschettenknopf.
„Ich weiß nicht, Sir. Es ist nur so eine Vermutung … Aber …“ Er musste damit rausrücken. Musste Abberline von seiner Idee erzählen, alleine schon, um zu hören, ob er sich vielleicht nur verstiegen hatte.
„Es … fällt mir nicht leicht, denn es ist gewissermaßen etwas Persönliches …“
Abberline sah ihn konzentriert an. Nicht mal der Hauch einer humorigen Bemerkung lag in der Luft. Er war ein Mann, der wusste, wann es ernst wurde.
„Meine Verlobte und ich haben in gegenseitigem Einvernehmen die Verlobung aufgelöst.“ Harris erschrak, als er bemerkte, dass er nicht einmal mehr Adelaides Namen laut aussprechen konnte und fragte sich, wieso das so war.
Abberline rührte sich nicht. Gab keinen Kommentar.
„Nun habe ich sie gesucht … Und gefunden.“ Er bemerkte, wie töricht die Sachen klangen, die er sagte, doch da Abberline nichts einwarf, sprach er weiter.
„Ich wollte mit ihr sprechen und man schickte mich zu einer bestimmten Adresse in Mayfair. Ein sehr vornehmes Haus. Es zeigte sich, dass sie … nun … dass sie mit dem dort residierenden Mann liiert ist.“
Eine Liaison zwischen zwei Mitgliedern der gehobenen Schichten stieß bei niemandem auf Ablehnung, solange die Dinge diskret gehandhabt wurden. Insofern erhob auch Abberline keinen Einwand.
Er schien sich nur zu fragen, weshalb Harris ihm etwas derart Persönliches offenbarte.
„Sir … Der Mann ist Russe. Russischer Hochadel, wenn ich es recht sehe.“
Noch immer hatte er nicht zur Klarheit beigetragen und Abberline wartete weiter kommentarlos. Mit jedem Halbsatz aber, so erschien es Harris zumindest, lösten sich seine Überlegungen auf wie Nebel in der Morgensonne.
„Nein. Verzeihen sie mir, Sir. Es ist Schwachsinn.“
Er konnte nicht mehr weitersprechen, ohne sich vollkommen zum Trottel zu machen. Eilig beugte er sich über seine Unterlagen und schrieb mit kratzender Feder.
„Harris! Seien sie kein solcher Hasenfuß! Nun reden sie halt!“
Der Angesprochene schnaubte kurz und hob erneut an.
„Also das ist jetzt sicher nichts als wilde Spekulation, Sir. Aber das mit diesem Geheimzirkel, mit diesen Verschwörern … Das hat mir keine Ruhe gelassen. Sicher gibt es nicht so viele hochrangige Russen in London. Und dann … nun ja … sie hat mir gesagt, dass sie mit ihm das Land verlassen werde.
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