Tod und Leidenschaft (German Edition)
nur an einen Stuhl, auf den sie sich setzen konnte.
Das einbrechende trübe Herbstwetter trieb die Kundinnen in den Laden, um sich der Jahreszeit angemessen Hauben zu kaufen und sie hatte genug zu tun. Doch in jenen Zwischenzeiten, wo sich keine Kundin sehen ließ, übermannte sie die Erschöpfung mit voller Wucht.
Sie vermisste Harris und verspürte gleichzeitig noch immer jenen säureartig nagenden Zorn in sich.
Es war, als dränge irgendetwas sie, ihm ins Gesicht zu sagen, was sie von ihm hielt. Doch war das nicht nur die Sehnsucht, ihm nahe zu sein und sei es um den Preis einer endgültigen Trennung?
Aber die hatte ja sowieso schon stattgefunden. Er hatte sich für seine Verlobte entschieden. Seine zukünftige Frau, die – ihrem Aussehen nach – auch wesentlich besser zu ihm passte, als ein mittelloses Ladenmädchen.
Wenigstens fürchtete sie sich nicht mehr ganz so vor Lewinsky, denn er hatte mit keiner noch so winzigen Handlung angedeutet, dass er sie in irgendeinem Verdachte hatte.
Er behandelte sie ebenso freundlich und warmherzig wie eh und je.
Fast ein Monat war seit dem letzten Mord vergangen.
Beinahe wollte es Elizabeth so erscheinen, als sei alles nur ein böser Traum gewesen. Einbildung ihrer überhitzten Fantasie.
Die Rufe der Zeitungsjungen auf den Gassen schienen nichts, als der Nachhall längst vergangener Dinge. Der Versuch der Zeitungen, aus etwas Kapital zu schlagen, das längst erledigt war.
Vielleicht war der Ripper ja längst tot und es waren nur irgendwelche Spaßvögel, die weiterhin Briefe schrieben und weitere Taten ankündigten. Ja, Elizabeth hatte sogar die Journalisten selbst im Verdacht. War es nicht naheliegend, sich selbst bessere Verkäufe zu verschaffen, wenn man es so einfach konnte?
Es war alles vorbei. Davon ging sie aus.
Der Ripper war womöglich tot, oder hatte seinen Ort gewechselt. Er konnte sogar das Land verlassen haben. Alles war möglich.
Aber für sie selbst war das Abenteuer zuende. Und mit dieser Gewissheit war die Müdigkeit gekommen. Die vollkommene Erschöpfung.
Als hole sich ihr Körper jetzt, was er all die Wochen vermisst hatte.
„Nun … sie werden doch nicht schon jetzt in den Winterschlaf gehen, meine Liebe?“ Es war Lewinskys freundliche Stimme, der sie gesehen hatte, wie sie sich erschöpft an ein Regal lehnte.
„Nein. Ganz und gar nicht. Ich bin nur müde.“
„Sie werden sich doch nicht erkältet haben?“, fragte er besorgt. „Dann müssen sie jetzt sehr viel Tee trinken!“
Elizabeth verstand die Aufforderung und kochte eine große Kanne, aus der sie sich un ihrem Chef einschenkte.
„Setzen sie sich zu mir, Miss Montgomery. Lassen sie uns einen Moment verschnaufen, ja?“
Sie nahm sein Angebot an.
„Es liegen schwierige Wochen hinter uns allen“, hob er an und Elizabeth nickte nur matt.
„Aber die Widerstände, die wir überwinden, machen uns stark für das, was vor uns liegt. Und dafür dürfen wir dankbar sein.“
„Gewiss“, sagte sie.
Jetzt lächelte er und drehte die Tasse auf dem zierlichen Teller.
„Sie sind jung … Sie müssen noch lernen.“
Elizabeth hatte nichts gewollt, als ein kleines Glück an Harris Seite. Seine Worte, die Versprechungen, die Bilder, die er von ihrer gemeinsamen Zukunft gemalt hatte – wie sehr hatte sie sich das gewünscht.
Und sie hatte ihm geglaubt und vertraut.
Unmerklich hatten sich ihre Blicke mit jenen Lewinskys verfangen.
„Ich weiß, woran sie jetzt denken, mein Kind. Alle Wunden heilen. Aber auch Narben können schmerzen. Das ist eine bittere Erkenntnis. Aber der Allmächtige verlangt von uns, dass wir immer weitergehen. Wir dürfen niemals stehen bleiben. Also … sehen sie nach vorne!“
Elizabeth hörte seine Worte und glaubte ihm auch. Er hatte Recht. Aber das machte es nicht einfacher.
Es war die Ladenglocke, die Elizabeth von dem kleinen Werkstisch wegrief.
Sie blieb starr in der Ateliertür stehen, als sie Harris im Laden erblickte.
Wenn sie mit allem gerechnet hatte … mit ihm nicht. Hatte er sich doch nicht mehr gemeldet, seit sie ihn versetzt hatte.
„Miss Montgomery …“, sagte er knapp und als Ersatz für eine ordentliche Begrüßung. „Ist Mister Lewinsky zu sprechen?“
Mit zugeschnürter Kehle, unfähig auch nur ein Wort zu sagen, nickte sie und gab den Weg ins Atelier frei.
„Ah … der Herr Inspector! Was führt sie in meinen bescheidenen Laden?“
Die Tür fiel ins Schloss.
Sein Besuch galt also nicht ihr. Er machte nicht einmal den
Weitere Kostenlose Bücher