Tod und Teufel. Bundesausgabe.: Ein Krimi aus dem Mittelalter.
ich alles rückgängig machen könnte.«
»Man kann nichts rückgängig machen.«
»Ich weiß. Aber ich kann an nichts anderes mehr denken. Ich wünschte, ich könnte alles ungeschehen machen.« Er hörte, wie Jaspar sich den Schädel kratzte. »Nein«, sagte der Physikus. »Das ist kein guter Wunsch.« »Doch! Dann wäre alles nicht passiert!« »Meint Ihr? Mit solchen Wünschen verleugnen die Menschen ihre Ziele,
ihre Überzeugungen, ihr ganzes Dasein. Es ist der Wunsch der Unentschlossenen und Schwachen. Wißt Ihr, daß Abaelardus zu keiner Zeit, solange er lebte, seine Liebe zu Heloise bereut hat? Sie haben ihn grausam dafür bestraft, aber er hätte sich jederzeit aufs Neue für sie entschieden.«
»Ihr sprecht viel von diesem Abaelardus«, sagte Jacop.
»Er ist mein Vorbild«, entgegnete Jaspar. »Auch wenn er schon über hundert Jahre tot ist. Petrus Abaelardus war einer der überragenden Intellektuellen Frankreichs, demütig vor Gott und doch vermessen genug, sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms als der größte aller Philosophen zu bezeichnen. Man sagt, der Disput sei das Turnier der Kleriker; darin war er ungeschlagen! Und er liebte es geradezu, sich Feinde zu machen. Seine Überzeugung, dem Mensch sei ein freier Wille zu eigen, stand ja in heftigstem Widerspruch zur Lehre der Mystik. Schließlich verliebte er sich in Heloise, die Nichte eines Domherrn, die ihm als Schülerin anvertraut war. Eine verbotene Liebe. Es folgte eine Reihe skandalöser Verwicklungen, an deren Ende eine nächtliche Strafexpedition in sein Haus stattfand. Der Domherr ließ ihn entmannen.« Er lachte leise. »Aber die Liebe der beiden konnte er nicht rückgängig machen, und ebensowenig konnte er verhindern, daß sie zum guten Schluß nebeneinander begraben wurden. Abaelardus hat nie mit der Vergangenheit gehadert, und das hat ihn groß gemacht. Alles war seine freie Entscheidung gewesen.«
»Mein Vater«, sagte Jacop sinnend, »hat immer nur von der Ohnmacht des sündigen Menschen gesprochen. Daß wir keine Wahl hätten, uns für irgend etwas zu entscheiden.«
»Und glaubtet Ihr das auch?«
»Nein.«
»Goddert glaubt es«, seufzte Jaspar. »Und viele wie er, die keine wahre Überzeugung haben und Schwäche mit Glauben verwechseln. Er trudelt zwischen den Auffassungen hin und her. Von jeder versteht er ein bißchen was und doch von keiner etwas Richtiges, und daraus bastelt er sich dann das, was er für seine Meinung hält. Oh, er ist streitbar! Wir liefern uns von früh bis spät quodlibetische Disputationen, aber sie machen keinen Sinn. Es ist nur Spaß, hinter dem sich die traurige Erkenntnis verbirgt, daß Goddert überhaupt keine Meinung hat. Ich weiß, ich dürfte nicht so über ihn reden, aber er ist nun mal ein Vertreter dieser fatalen Geisteshaltung, die unsere Zeit beherrscht. Aber wenn die Menschen aufhören, sich eine Meinung zu bilden, wenn sie Fragmente für ein Ganzes nehmen und nicht mehr nach Zusammenhängen forschen, dann wird die Welt zu einer Kirche ohne Mörtel zwischen den Steinen. Sie wird in aller Pracht zusammenbrechen, und man wird von der Ankunft des Antichristen sprechen, den der heilige Bernhard mit glühenden Worten heraufbeschworen hat wie kein anderer vor und nach ihm. Aber der Antichrist ist kein höllischer Zerstörer, kein gehörnter Teufel und kein Tier, das aus dem Meer steigt. Der Antichrist ist das Produkt der Christen. Er ist die Leere hinter einem Glauben, der nur Stillstand kennt und Bestrafung. Und ebenso ist er die Leere hinter dem Fatalismus, in den Ihr Euch begeben habt, die Leere in Eurem Leben. Man könnte sagen, der Teufel lauert darauf, Euch in Besitz zu nehmen.«
Jaspars Worte taten ihm beinahe körperlich weh. »Hat er das nicht schon?« fragte er. »Damals an der Hütte. Bin ich nicht schon für alle Zeiten verloren?«
»Das seid Ihr nicht!« sagte Jaspar mit Nachdruck. »Eure Weigerung, anzuerkennen, daß das Leben weitergeht und Ihr die Vergangenheit nicht ändern könnt, einfach aufzugeben, davonzulaufen – das ist der Teufel, nichts sonst!«
»Ihr meint, es gibt ihn gar nicht?« Jacop schüttelte den Kopf. »Nicht als – Wesen?«
»Es ist teuflisch, dem Menschen abzusprechen, was ihm eigentümlich ist, seine Befähigung zur Vernunft und zum freien Willen, so wie blindwütige Ketzerprozesse im Namen eines allmächtigen Gottes tatsächlich Teufelswerk sind. Es gibt nichts Anmaßenderes als fanatische Demut. Aber ebenso ist Vernunft ohne Glauben etwas Teuflisches,
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