Tod und Teufel. Bundesausgabe.: Ein Krimi aus dem Mittelalter.
gewaltige Fassade mit den unglaublich hohen, schlanken Fenstern.
Vom Frankenturm aus konnte er dorthin gehen, ohne durch ein bewachtes Tor zu müssen.
Als er über den Platz schritt, gemächlich und scheinbar ins Gebet versunken, wußte er plötzlich, woher der Schatten gekommen war.
Und mit einem Mal wußte er alles.
Und mit einem Mal wußte er alles. Er war der Prozession hinterhergelaufen, weil ihm plötzlich der Gedanke gekommen war, Urquhart könne sich daruntergemischt haben, verkleidet als Priester, Mönch oder vielleicht sogar als gepanzerter Reiter. Er hatte den Unwillen der Umstehenden auf sich gezogen, die seine Ellbogen zu spüren bekamen, als er an den Singenden und Betenden entlanggehastet war. Weiter vor ihm ritt Konrad unter dem Baldachin, je zwei Geharnischte neben, vor und hinter sich. Der Wind spielte mit seinen Haaren. Zwischen den lebhaften, hellblauen Augen entsprang eine Nase, die ihm etwas von der animalischen Würde eines Falken verlieh. Der Erzbischof war weder groß noch besonders kräftig gebaut, aber seine Erscheinung beherrschte alles und jeden.
Urquhart war nicht unter den Mitgliedern der Prozession gewesen. Bei dem Gedanken, dem Zug wie ein Hofnarr vornewegzulaufen und die Häuser anzugaffen, kam sich Jaspar unsagbar albern vor. Er sah sich um und stellte überrascht fest, daß er fast schon an der Einmündung zur Schildergasse war.
Um ihn herum nahm das Gedränge zu.
Sein Blick suchte nach Jacop.
Wie ein Esel war er losgetrabt, einer dummen Idee folgend. Verärgert schob er sich zwischen den Schaulustigen durch, um zurück zu Jacop zu gelangen.
»Hör nur«, sagte eine zerlumpte Frau direkt neben ihm zu dem kleinen Mädchen, das sie auf dem Arm trug, »wie schön die heiligen Männer singen. Sie singen alle im Chor.«
»Alle im Chor«, plapperte das Mädchen nach.
Im Chor –
Domchor!
Die Erkenntnis traf Jaspar wie der Blitz.
Er stöhnte auf. Fast wurde ihm übel. Mit Fäusten und Ellbogen begann er sich seinen Weg zurück zu bahnen.
Dom
Gemessen an dem, was einmal die erhabenste Kirche der societas christiana werden sollte, mutete die Choranlage des neuen Doms eher bescheiden an. Gerhard hatte nur das Erdgeschoß vollenden können mit dem Kapellenkranz und den größten Teil einer angrenzenden Sakristei im Norden.
Verglichen allerdings mit allem übrigen, was sich in Köln erhob, war das Resultat schon jetzt titanisch. Das gewaltige Halbrund des Chors stieß mit der flachen Seite an die Reste des ursprünglichen Doms, so daß man erst ihn durchqueren mußte, um ins Innere des Neubaus zu gelangen. Es war ein seltsames Bild. Der alte Dom, eine mächtige, rund einhundert Meter lange Basilika mit Chören und Querhäusern im Osten und Westen, war wenige Monate vor der Grundsteinlegung des neuen abgebrannt. Nur die westliche Hälfte hatte man provisorisch wieder aufgebaut. Jetzt sah es aus, als sei die alte Kirche in der Mitte wie von einem Schwerthieb zerteilt worden. Dahinter begann nicht nur ein neues Gotteshaus, sondern ein neues Zeitalter.
Jacop stand davor und ließ seinen Blick die luftige Konstruktion der Gerüste hinaufwandern. Hoch oben konnte er Treträder, Seilwinden und Kräne ausmachen.
Ihm war unvermittelt klar geworden, daß er nicht einfach ein Halbrund vor sich hatte. Der Chor war ein Hufeisen. Und gemäß der Form des Hufeisens zogen sich die Dachkonstruktionen nur über die Kapellen. Als Urquhart plötzlich aus dem Nichts zu kommen schien, hatte er sich nicht wunderbarerweise manifestiert, sondern war aus dem offenen Innern des Hufeisens emporgestiegen, während Gerhard außen entlangging. Urquhart hatte nicht auf dem Dom gewartet, sondern im Dom.
Aber woher sollte das einer wissen, der viel vom Äpfelstehlen verstand und nichts von der Baukunst? Jacop hatte einfach vorausgesetzt, über das ganze Werk ziehe sich ein einziges, lückenloses Dach.
Stattdessen lag das Innere unter freiem Himmel. Was bedeutete, daß man vom Dach aus jede der Chorkapellen einsehen konnte, je nachdem, wo man sich befand, und mit einigem Geschick so, daß man selber nicht gesehen wurde. Man konnte hineinsehen – und hineintreffen.
Jacop schritt unter das Gerüst und legte die Stirn gegen den kühlen Stein. Zur Prim, wenn die Prozession den Dom wieder erreicht hatte, würde die Messe beginnen. Konrad würde in die Achskapelle treten, um zu predigen. Und es würde genauso kommen, wie Jaspar es vorausgesagt hatte, nur eben nicht in den Straßen, sondern im Dom. Konrad würde
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