Tod und Teufel. Bundesausgabe.: Ein Krimi aus dem Mittelalter.
getroffen zu Boden stürzen, ohne daß jemand auf die Idee käme, nach oben zu schauen. Man würde den Schützen in der Menge suchen, während Urquhart Gelegenheit fände, über das Dach und das Außengerüst zu entkommen.
Jaspar hatte berichtet, Konrad wolle in der Achskapelle beigesetzt werden. Wie es aussah, würde er sogar darin sterben.
Es blieb weniger als eine Stunde.
Und wenn er nach den Gewaltrichtern Ausschau hielt? Aber wem konnte er noch trauen, nachdem sich selbst der Sekretarius des Erzbischofs als Verräter entpuppt hatte?
Eine Stunde.
Jacop ertappte sich dabei, wie er mit den Fingern seinen Nasenrücken zu massieren begann, ganz so, als sei er Jaspar, der Denker. Wann würde Urquhart hinaufsteigen, wo überhaupt in Stellung gehen? Dann fiel ihm ein, daß der Mörder gar keine Wahl hatte. Um in die Achskapelle zielen zu können, mußte er sich an eines der beiden Hufeisenenden begeben. Über die Südfassade konnte er aber nicht fliehen, weil er auf diese Weise im Domhof auskam und durch die Drachenpforte oder Hachtpforte mußte, also vorbei am schwerbewachten erzbischöflichen Palast. Zur anderen Seite hingegen zog sich die Dranckgasse an der Dombaustelle vorbei. Ein weitaus besserer Fluchtweg.
Am nördlichen Ende also. Dort würde Urquhart auf Konrad lauern. Falls ihm nicht jemand zuvorkam und versuchte, den Mord zu verhindern.
Jacop schaute erneut nach oben.
Er stand seitlich der Sakristei, dort, wo der Chor sich allmählich zu runden begann. Gleich vor ihm strebte eine Leiter in die Höhe, beinahe, als hätte ihn die Vorsehung an den richtigen Platz geführt, damit er hinaufsteigen und sein Leben opfern konnte.
Sein Leben. Am Ende doch?
Zögernd umfaßte er die senkrechte Leiter, die zur unteren Gerüstempore führte. Bis auf zwei Drittel der Chorhöhe hatte man die Konstruktion aus Balken, festem Schilfrohr und Bretterböden auf ein Minimum reduziert, das nötig war, um in höhere Regionen zu gelangen. Die Arbeiten im unteren Teil waren weitgehend abgeschlossen. Weiter oben hingegen wurde am Blendmaßwerk der Kapellenfenster Feinarbeit geleistet, die Verstrebungen des Gerüsts begannen wieder dichter zu werden, um sich dann über den Bau hinauszuschwingen in Vorbereitung der nächsten Gerüststufe und des nächsten Stockwerks auf dem Weg zum Himmel.
Oh, Babylon –
Und wenn er doch davonlief?
Jacop hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er schon kletterte. Niemand beobachtete ihn. Ganz Köln säumte noch den Prozessionsweg. Oben würde er vielleicht ein Werkzeug finden, ein Breitbeil oder Brecheisen, mit dem er sich verteidigen konnte, wenn Urquhart kam. Sein einziger Vorteil war, vor ihm dort zu sein. Der Mörder würde kaum damit rechnen, jemanden auf dem Dach vorzufinden. Jacop konnte sich in einem der Treträder oder hinter einem Kran verbergen und von hinten auf ihn losgehen. Das war zwar feige. Aber mutig zu sein, konnte schnell bedeuten, tot zu sein. Urquhart mit Mut beizukommen, war sinnlos.
Während er weiter nach oben gelangte, staunte Jacop, wie riesig die Fenster in Wirklichkeit waren. Verengten sie sich aus Straßensicht mit zunehmender Höhe zu graziler Schlankheit, erschienen sie ihm jetzt gewaltig und breit und die Strebepfeiler beinahe wehrhaft. Das Glas, obschon bunt, bot sich Jacop im Dämmerlicht als schwarze, von Bleiadern durchzogene Fläche dar. Er zog sich weiter hoch und erreichte den ersten Gerüstboden. Als er nach unten blickte, sah er schon auf die Dächer der gegenüberliegenden Häuser.
Vor ihm strebte die nächste Leiter in die Höhe. Langsam nahm Jacop Sprosse um Sprosse. Er hatte nicht vorgehabt, länger als nötig auf dem Gerüst zu verweilen, aber was er sah, übte eine eigenartige Faszination auf ihn aus. Er war jetzt in Höhe der Spitzbögen des zweibahnigen Chorfensters, an dem vorbei ihn sein Weg nach oben führte. Darüber begann der eigentliche Fensterbogen, spitz zulaufend und ausgefüllt von ornamentaler Pracht. Nichts von der Schwere des Steins schien der Architektur noch anzuhaften, es war beinahe, als könne man jede Leiter und jeden Halt fahren lassen und würde doch von der aufstrebenden Leichtigkeit des Gedankens hochgetragen, der dieser Kirche aller Kirchen zugrundelag –
Es war Gerhards Gedanke gewesen. Aber Gerhard war nicht aufgestiegen. Er war gestürzt.
Jacop riß sich von dem Anblick los. Seine Hände griffen nach der höheren, der nächsthöheren, der darüberliegenden Sprosse. Er passierte die zweite Ebene und
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