Tod vor der Morgenmesse
daß du deshalb ›kleine Wölfin‹ genannt wurdest?«
Schwester Sinnchéne starrte sie eine Weile an und ließ dann die Schultern sinken.
»Mein Vater hat meine Mutter verlassen, als ich zwölf war. Seither habe ich ihn nie wieder gesehen, bis gestern, wie er als Conrís Gefangener durchs Tor kam.« Sie sprach langsam und beherrscht. »Selbst als meine Mutter an der Gelben Pest erkrankte und starb, hat er sich nicht blicken lassen, und das war lange vor der Schlacht von Cnoc Áine. Da hätte er noch ohne weiteres kommen können. Nicht einmal zu ihrem Begräbnis |399| ist er erschienen. Mit den Verbrechen, die er begangen hat, habe ich nichts zu schaffen.«
Fidelma sah ihren Augen an, wie verbittert sie war.
»Also fast zehn Jahre lang bist du ihm nie begegnet?«
»Es ist so, wie ich gesagt habe.«
»Und dennoch hast du ihn erkannt.«
Schwester Sinnchéne zuckte mit den Schultern.
»Sein Bild ist mir in all den Jahren ins Gedächtnis gebrannt; Jahre, in denen ich einen Vater gebraucht hätte. Jeden Tag habe ich darum gebetet, daß er wiederkehrt. Er ist älter geworden, ja, aber erkannt habe ich ihn sofort.«
»Weißt du, warum er dich und deine Mutter im Stich gelassen hat?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es hieß, er habe seinen Kriegertrupp nach Norden geführt, zu Raubüberfällen gegen die Uí Fiachrach Aidne, die Uí Briúin Seóla und andere Stämme. Dann fiel Eoganán in der Schlacht bei Cnoc Áine, und die Uí Fidgente haben sich Cashel unterworfen. Mein Vater hat sich geweigert, so hieß es, dem neuen Stammesfürsten Donennach Gefolgstreue zu schwören. Er soll im Süden geraubt und geplündert haben und war im Söldnertrupp von Uaman …«
»Uaman der Aussätzige?«
Schwester Sinnchéne nickte. »Da redete man noch nicht von Uaman dem Aussätzigen, sondern einfach vom Herrn der Bergpässe im Süden des Gebiets der Uí Fidgente.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich habe einiges mitbekommen von dem, was Durchreisende so redeten.«
»Auch Mugrón der Kaufmann wußte einiges über deinen Vater«, erinnerte sie Fidelma.
»Ja, weil meine Mutter es ihm erzählt hatte. Ich glaube nicht, |400| daß er ihn erkannt hätte. Er wußte nur, daß mein Vater meine Mutter und mich im Stich gelassen hatte.«
»Woher kannte deine Mutter Mugrón?«
»Nachdem mein Vater weg war, ist meine Mutter nach An Bhearbha gezogen, in die Nähe des Hafens, wo Mugrón seine Handelsniederlassung hat.« Plötzlich wandte sie sich geradezu flehentlich an Fidelma. »Olcán hat mich doch nicht erkannt, nicht wahr?«
Fidelma runzelte die Stirn
»Er hat dich nicht erwähnt«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Warum fragst du?«
Schwester Sinnchéne überhörte die Frage. »Dann bitte ich dich um einen Gefallen. Enthülle niemandem, daß ich seine Tochter bin.«
»Warum nicht?«
»Er hat mich nicht als Tochter anerkennen wollen, warum soll ich ihn da jetzt als Vater anerkennen?«
Fidelma sah sie nachdenklich an.
»Willst du mir weismachen, du hast in all den Jahren in der Abtei nie jemandem anvertraut, daß Olcán dein Vater war?«
Die junge Nonne hob ein wenig den Kopf und errötete.
Fidelma lächelte böse. »Da gab es jemanden, stimmt’s?«
Schwester Sinnchéne zögerte und nickte dann.
»War es Bruder Cú Mara?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, und damit überraschte sie Fidelma. »Der einzige Mensch, mit dem ich darüber gesprochen habe, war Cináed.«
Fidelma schwieg zunächst und sagte dann bedächtig: »Der Ehrwürdige Cináed also, der hat es aus deinem Munde erfahren?«
»Ja, so war es.«
|401| »Wie hat sich das ergeben? Wann hast du ihm davon berichtet?«
Die Antwort kam etwas unsicher und erregt.
»Ich habe dir von meinem Verhältnis mit Cináed erzählt. Wir unterhielten uns über die Veränderungen, die im Land der Uí Fidgente vor sich gehen, und er sprach von den Geschichten, die über Uaman in Umlauf waren. Es hieß, daß Uaman trotz seines Makels als Aussätziger den Plan hegte, den Stamm der Uí Choirpre Áedha auf den Fürstenthron der Uí Fidgente zu bringen. Die Uí Choirpre Áedha sind …«
Fidelma hob die Hand. »Mir sind die Zwistigkeiten zwischen den Fürsten eurer Sippen zur Genüge bekannt.«
»Ach so. Es gab weiterhin Gerüchte, daß Uaman Reichtümer im Grenzgebiet der Corco Duibhne aufhäufte, um ein Heer von Söldnern zu kaufen, mit denen wollte er dann die Festung in Caola angreifen, das ist Donennachs Hauptort.«
»Und in welchem Zusammenhang ist der Name deines Vaters
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