Tod vor der Morgenmesse
überrascht und der Sache keine weitere Bedeutung zuzumessen.
»Ich wollte mir noch in einer anderen Angelegenheit Gewißheit |407| verschaffen, Bruder Faolchair«, fuhr sie fort. »Das letzte Buch, das Cináed fertigstellte und dir zur Abschrift gab, war …?«
»De arte sordida gemmae.«
»Ja, das meine ich. Kannst du dich genauer daran erinnern?«
»Das kann ich sehr wohl. Es gehörte zu den Büchern, die hier in dieser Bibliothek vernichtet wurden.«
»Wann hat er dir das Werk zur Abschrift gegeben?«
»Ein paar Tage vor seinem Tod.«
»Ich glaube, du hast gesagt, du warst mit der Abschrift noch nicht fertig.«
»Ja, so ist es. Die Seiten, die ich abgeschrieben hatte, sind mit dem Original verbrannt.«
»Worum ging es in dem Buch? Welche Behauptungen wurden aufgestellt, welche Schlußfolgerungen gezogen?«
Bruder Faolchair zuckte die Achseln. »Ich habe das Buch nicht gelesen.«
Fidelma war sprachlos. »Aber du warst doch dabei, es abzuschreiben. Da mußt du es zuerst durchgelesen haben.«
Der Hilfsbibliothekar schüttelte den Kopf. »Wenn du als Kopist arbeitest, Schwester, lernst du als erste Regel, du darfst das Manuskript nicht lesen, das du abschreibst. Zeile um Zeile schreibst du genau das ab, was du vor dir siehst, sonst würdest du immer wieder Fehler machen.«
»Das begreife ich nicht.«
»Wenn du denkst, du begreifst, was geschrieben steht, eilst du mit deinen Gedanken voraus. Du schreibst hin, was deiner Meinung nach als nächstes kommen müßte, anstatt darauf zu achten, was du gerade vor dir siehst. Da ist es besser, den Inhalt zu ignorieren, nur dann kannst du eine sorgfältige Abschrift liefern.«
|408| »Du weißt also überhaupt nicht, worum es in dem Text ging?«
Der junge Mann wand sich. »Ich erinnere mich, es fing mit dem Gedanken an, es braucht ein Vermögen, um Kriege anzufangen und durchzustehen, seien sie gerecht oder ungerecht. Dann hieß es weiter, der Reichtum dieses Landes hätte es den Häuptlingen der Uí Fidgente ermöglicht, ihre Kriege gegen Cashel zu führen. Daraus zog Cináed den Schluß, ein solches Bedingungsgefüge ergebe einen stetig wiederkehrenden endlosen Kreis. Stets wären Reichtümer erforderlich, um Kriege zu führen, und je mehr Kriege geführt würden, um so mehr Vermögen würde benötigt. Reichtum brächte Kriege hervor, und Kriege schafften Reichtum. Je mehr Land es zu erobern gelte, um daraus das Vermögen zu ziehen, mit dem die Kriege bezahlt würden, um so mehr Kriege müßten des Gewinns wegen geführt werden. Er nannte das den Endlosen Kreis.«
Eadulf schaute auf.
»Der endlose Kreis«, wiederholte er leise und warf Fidelma einen Blick zu.
»Woran erinnerst du dich noch?« forschte sie weiter, ohne den Einwurf ihres Gefährten zu beachten.
»Der Ehrwürdige Cináed ließ sich dann über die Gewinnung von Edelsteinen aus als Methode, sich Geld zu beschaffen … Nein, er hat geschlußfolgert, daß man sich damit befaßte, um die Kosten der Kriegsführung zu bestreiten.«
»Und dann?«
»Wie es weiterging, weiß ich nicht. Ich war eben bei der Abschrift dieser These.«
Unruhig blickte er um sich. Fidelma wurde gewahr, daß Bruder Eolas die Bibliothek betrat.
»Danke, das ist alles, was wir brauchten. Du hast uns wie immer sehr geholfen, Bruder Faolchair.«
|409| Draußen vor der Bibliothek geriet Eadulf vor Erregung geradezu aus dem Häuschen.
»Der Endlose Kreis. Siehst du die Verbindung? Der Chorleiter muß hinter all dem stehen. Der Endlose Kreis ist der Name seiner Vereinigung. Erinnerst du dich, was mir der Chorsänger in Daingean erzählt hat?«
»Du hast das oft genug erwähnt«, bemerkte Fidelma trocken.
»Sollten wir dann jetzt nicht Bruder Cillín aufsuchen?«
Er war enttäuscht, daß sie darauf nicht einging.
»Wir werden jetzt den Ehrwürdigen Mac Faosma aufsuchen und ihn bitten, uns Einsicht in die Genealogie nehmen zu lassen. Ich denke, das könnte die Frage beantworten, die sich mir stellt.«
Eadulf rümpfte die Nase. »Wie das gehen soll, verstehe ich nicht.«
Fidelma blieb ruhig. »Übrigens, wir müssen das auch nicht gemeinsam machen. Ich rede mit dem Ehrwürdigen Mac Faosma, und du kannst inzwischen versuchen, möglichst viel über Bruder Cillín herauszubekommen und über seine Vereinigung. Geh aber so vor, daß er nicht merkt, weshalb du ihn ausfragst.«
Eadulf reckte sich, er fühlte sich in seinem Stolz verletzt. »Wenn ich Nachforschungen anstelle, tue ich das immer mit der nötigen Umsicht. Das weißt
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