Tod vor der Morgenmesse
unverändert, aber Fidelma spürte, wie sich die Muskeln des Mädchens verspannten.
»Das ist unmöglich.«
»Es ist nicht nur möglich, Sinnchéne, es ist eine Tatsache. Deshalb kann ich dir nicht versprechen, dein Geheimnis zu wahren. Ich will es tun, wenn irgend möglich, doch es kann sein, daß ich es als Mittel nutzen muß, um denjenigen oder diejenigen dingfest zu machen, die so vieles verschuldet haben.«
Schwester Sinnchéne stand wie versteinert.
Fidelma wußte nicht recht, wie sie mit ihr umgehen sollte.
»Möchtest du, daß ich dir jemand schicke, der dir mit Rat und Tat zur Seite steht?«
Sinnchéne seufzte und löste sich aus ihrer Erstarrung. Verloren schaute sie um sich. »Mir zur Seite stehen? Ich brauche niemanden, der mir hilft. Damals, als ich noch ein Kind war, da hätte ich den Beistand eines Vater gebraucht. In Wirklichkeit ist mein Vater für mich diese letzten zehn Jahre schon tot gewesen … In meinen Gedanken jedenfalls … Jetzt ist er tatsächlich gestorben.«
Sie sagte das ohne innere Anteilnahme.
Das junge Menschenkind tat Fidelma leid. Ein herzloser Vater hatte sie allein in der Welt gelassen; darunter litt sie noch immer, wenn sie sich nach außen auch kalt und gelassen gab.
Sie sah Eadulf über den eisigen Hof gehen, verabschiedete |405| sich von Schwester Sinnchéne und eilte ihm nach, um ihm zu berichten, was geschehen war. Er war zutiefst erschrocken.
»Heißt das, Esumaro und die sechs Ordensschwestern sind auch in Gefahr?«
»Das glaube ich nicht«, beruhigte ihn Fidelma. »Unser Mörder hatte nur vor dem einen Angst, der ihn unter Umständen hätte enttarnen können. Ich denke, alle anderen sind vor dem Unhold sicher.«
»Meinst du, es handelt sich um den ominösen ›Meister‹?«
Sie nickte. »An Sinnchénes Geschichte verstehe ich eins nicht: Warum haben den Ehrwürdigen Cináed ausgerechnet Bäume so beschäftigt?« Sie überlegte kurz. »Hat das mit dem heiligen Baum der Clans zu tun? Sinnchéne erzählte mir, daß er gemurmelt habe ›dann ist doch etwas dran an der alten Geschichte‹, und danach sei er in die Bibliothek geeilt, um in einem Buch über Bäume etwas nachzuschlagen. Was hat es mit der alten Geschichte auf sich? Was mit den Bäumen?«
»Das habt ihr von der Merkwürdigkeit eurer Sprache«, sagte Eadulf mißbilligend. »Wenn ihr von Bäumen redet, kann damit vielerlei gemeint sein. Sogar der Mast eines Schiffs wird mit demselben Wort bezeichnet. Cináed mag Schiffe im Sinn gehabt haben, vielleicht auch so etwas wie einen Familienstammbaum …«
Fidelma lachte hell auf.
»Eadulf, was würde ich ohne dich machen? Mitunter sieht man den Wald vor Bäumen nicht.«
Eadulf schaute verdutzt drein. »Könntest du dich etwas klarer ausdrücken?«
»Familienstammbaum! Den wollte sich der Ehrwürdige Cináed ansehen. Genau das war’s.«
»Bloß, wessen Familienstammbaum?«
|406| Fidelma lächelte glücklich vor sich hin und lenkte ihre Schritte zur Bibliothek.
»Den von Uamans Sippe natürlich. Um den Stammbaum der Herrscher der Uí Fidgente geht es. Und genau um das Buch hat Conrí gestern abend Bruder Eolas gebeten.«
In der Bibliothek fanden sie Bruder Faolchair vor, der so gehetzt wie üblich aussah. Ständig schaute er über die Schulter, um sich zu vergewissern, ob Bruder Eolas in der Nähe war. Doch der Bibliothekar war weit und breit nicht zu sehen.
»Ich bekomme immer noch Schelte, weil die Bücher des Ehrwürdigen Cináed verbrannt sind«, erklärte er aufseufzend, als er merkte, daß seine Unruhe Fidelma und Eadulf aufgefallen war. »Ich fürchte, Bruder Eolas ist sehr nachtragend.«
»Wir werden bald auch diesen Vorgang aufklären können«, besänftigte ihn Fidelma. »Aber jetzt brauchen wir deine Hilfe. Habt ihr ein Werk über die Genealogie der Uí Fidgente?«
Der junge Hilfsbibliothekar wußte sofort Bescheid.
»Natürlich. Als eine der besten Bibliotheken im Königreich bewahren wir alle Urkunden und Dokumente über unsere großen Fürsten und die adligen Familien auf.«
»Könnten wir die Genealogie einmal sehen?«
»Oh, die ist im Augenblick nicht am Ort. Ist ausgeliehen.«
Sie zogen lange Gesichter. »Wer hat den Band ausgeliehen?« wollte Fidelma wissen.
Bruder Faolchair lächelte. »Mit der Antwort kann ich leichter dienen – Bruder Benen kam heute früh und hat ihn für den Ehrwürdigen Mac Faosma geholt. Der hat das Buch jetzt.«
Eadulf warf Fidelma einen vielsagenden Blick zu, aber sie schien nicht sonderlich
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