Tod vor der Morgenmesse
sichtlich schockiert ob so einer Vorstellung. »Der Ehrwürdige Cináed führte ein Leben sonder Tadel. Feinde hatte er keine. Ein jeder mochte ihn. Niemand war ihm gram.«
Fidelma setzte ein skeptisches Lächeln auf. »Wenn ich eine |66| Sache gelernt habe, dann ist es die: Niemand kommt zu Ruhm und Ehre, ohne daß da nicht jemand ist, der das Gefühl hat, ihm sei Unrecht geschehen. Sei es aus Neid, weil er es nicht ebenso weit gebracht hat, sei es, weil man ihn unbeabsichtigt irgendwann einmal verletzt hat.«
»Der Ehrwürdige Cináed war ein weithin berühmter Gelehrter«, entrüstete sich Abt Erc.
»Je berühmter die Gelehrten, desto größer die Schar der Neider«, meinte Eadulf.
Mit müder Hand wehrte Abt Erc ab.
»Wenn wir hier den Meinungsstreit unter Gelehrten ermutigen und fördern, heißt das noch lange nicht, daß die, die mit dem Ehrwürdigen Cináed disputiert haben, ihn gleich ermorden würden, bloß weil ihnen nicht gefiel, was er vertrat. Auch ich war nicht mit allem, was er sagte und lehrte, einverstanden.«
Um Fidelmas Mundwinkel zuckte es spöttisch.
»Mir sind viele Fälle begegnet, wo ein Streitgespräch Persönlichkeiten so entzweit hat, daß schließlich Haß daraus wurde. Wer hat sich mit ihm angelegt? Irgendwo müssen wir anfangen und versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.«
Abt Erc wollte davon nichts wissen. »Du kennst doch seinen Ruf in den Kreisen der Gelehrten, Schwester. Niemand würde … Ich lehne es ab, so eine Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen.«
Fidelma war bemüht, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Ich stelle hier keine Fragen zum bloßen Zeitvertreib«, machte sie klar. »Welchen wissenschaftlichen Ruf der Ehrwürdige Cináed genoß, ist mir sehr wohl bekannt. Ich habe seine Abhandlungen über den
Computus Cummianus
und die Dreifaltigkeit
De Trinitate Interpretatio Perversa
gelesen. Sicher gilt die alte Spruchweisheit, daß Ruhm länger |67| währt als das Leben. Dessenungeachtet haben wir es nun erst einmal mit der Tatsache zu tun, daß er tot ist. Man hat ihn ermordet, der Täter muß gefunden werden und seine Schuld sühnen, und deswegen bin ich hier.«
Es herrschte Schweigen. Noch nie hatte eine junge Ordensschwester in solchem Ton mit dem alten Klosterherrn gesprochen. Zornesröte stieg ihm in die Wangen.
Bruder Cú Mara, der Verwalter, beugte sich nervös vor. »Der Ehrwürdige Cináed hat Rede und Gegenrede stets gefördert, Lady.« Er betonte den Titel, um auf ihre weltliche Stellung aufmerksam zu machen, und warf kurz einen Blick zum Abt. »Er mochte es, wenn man ihm scharfe Fragen stellte, war aber auch ebenso scharf in seinen Antworten.«
Abt Erc, an Fidelmas weltliche Stellung erinnert, gewann sein inneres Gleichgewicht zurück. »Mein
rechtaire
hat recht. Zu einigen unserer großartigen Disputationen waren viele Gelehrte hier versammelt, Gebildete aus vielen Klosterschulen im Lande – sogar von der Hohen Schule in Mungret.«
Mungret lag mitten im Land der Uí Fidgente, und Fidelma hatte schon immer einmal dorthin gewollt. Gegründet hatte es Nessan, ein Schüler Patricks. Berühmt geworden aber war es durch den heiligen Mongan den Weisen, der eintausendfünfhundert Gläubige um sich geschart hatte, auf daß sie an einem Ort beteten, der sich sechs stolzer Kirchen rühmen konnte. Eine Redensart hatte die Sprache bereichert: »So weise sein wie die Frauen von Mungret«.
Fidelma mußte lächeln, denn ihr fiel die Geschichte ein, die man ihr als Kind erzählt hatte. Mungret war so sprichwörtlich bekannt geworden, daß die Lehrer einer anderen Hohen Schule neidisch wurden und die weisen Männer von Mungret zum Streitgespräch herausforderten. An dem Tag, als man die Herausforderer erwartete, erlaubten sich die Weisen von |68| Mungret einen Scherz. Verkleidet als Wäscherinnen begaben sie sich zu einer Furt im Fluß, der die Grenze ihres Gebiets bildete und den die Gäste eben dort überqueren mußten. Die Herausforderer trafen wie erwartet auf die vermeintlichen Wäscherinnen, die am Fluß geschäftig bei den Linnen waren. Als sie gewahr wurden, daß die »Frauen« fließend Latein und Griechisch sprachen und mühelos mit ihnen debattieren konnten, machten sie kehrt. Wenn schon die Waschfrauen von Mungret so gebildet waren, wie sollten sie es dann mit den Gelehrten von Mungret aufnehmen können?
»Dich scheint etwas zu amüsieren, Schwester«, bemerkte Abt Erc bissig und riß Fidelma aus ihren Erinnerungen.
»Ich mußte
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