Tod vor der Morgenmesse
ihm. Wir zwei sind am längsten hier in der Abtei.«
»Sonst noch jemand? Ich betone, wirkliche Freunde?«
»Durch meine Stellung als
rechtaire
habe ich ihn recht gut gekannt«, steuerte Bruder Cú Mara bei, »aber daß ich ein enger Freund von ihm war, kann ich nicht sagen.« Er dachte kurz nach. »Und dann natürlich Schwester Buan. Sie kümmerte sich um seine täglichen Belange, denn er war doch schon ein wenig gebrechlich. Sie machte bei ihm sauber und erledigte Gänge für ihn.«
Fidelma nickte. »Sonst noch jemand?«
»Den Ehrwürdigen Mac Faosma kann man wohl nicht unbedingt zu den Freunden zählen«, überlegte Eadulf laut.
Abt Erc gab einen ärgerlichen Stoßseufzer von sich. »Ich will es noch einmal festhalten: Cináed und Mac Faosma waren grundverschieden. Cináed war fest in seiner Philosophie verwurzelt, und Mac Faosma beschäftigte sich mehr mit Recht und Geschichte. Beide hatten ihre Auffassungen zum Wissensgebiet des anderen und stritten darüber. Innerhalb des Klosters hatten sie keinen sonderlich engen Kontakt miteinander, wenn man von den großen Disputationen absieht.«
»Sonst noch jemand?« wiederholte Fidelma.
»Bruder Eolas natürlich.«
»Wer ist Bruder Eolas? Und wieso ›natürlich‹?« forschte sie.
»Er ist unser Bibliothekar und verwaltet sämtliche Bücher und Handschriften, die wir hier haben.«
|72| »Du hast eine Schwester Buan erwähnt, die sich um seine täglichen Belange kümmerte. Wer ist sie?«
Man merkte dem Alten an, daß ihm die Frage mißfiel, und abermals antwortete der
rechtaire
.
»Sie gehört zu unserem Orden.« Er zögerte, scheute sich allem Anschein nach, unter den Augen des erbosten Abts weitere Erklärungen abzugeben. »Sie half ihm, und sie zieht auch öfter durch die Umgebung, um mit den Dingen zu handeln, die im Kloster hergestellt werden.«
»Wäre das nicht mehr deine Aufgabe als Verwalter?«
»Meine Aufgabe besteht darin, mich darum zu kümmern, daß in der Abtei alles ordentlich läuft. Wir haben geschickte Hände hier, die Gegenstände aus Gold und Silber fertigen, auch aus Edelsteinen und Kristallen, die bei uns in der Gegend vorkommen. Schwester Buan verhandelt mit Kaufleuten wie Mugrón, um Gold und Silber für unsere Kunsthandwerker zu erwerben und dann die gefertigten Gegenstände zu verkaufen.«
Abt Erc sah immer noch nicht entspannter aus und stand plötzlich auf.
»Da wir nun bei diesem Thema angelangt sind, fällt mir ein, daß Schwester Buan am Tag nach dem Mord etwas auf dem Kaminrost des Ehrwürdigen Cináed gefunden hat. Es handelt sich um ein Stück Papier, und sie dachte, es könnte vielleicht weiterhelfen.« Er beugte sich zu einer Truhe und nahm etwas heraus. »Ich habe es aufgehoben, man kann ja nie wissen.«
Das Stück Papier war angekohlt und eingerissen und auch nur Teil eines Blattes. Er reichte es Fidelma.
Das einzige, was sie entziffern konnte, war »… Mitternacht. Orat … allein … Sin …«.
Eadulf schaute ihr über die Schulter, versuchte ebenfalls, etwas zu entziffern und schüttelte den Kopf.
|73| »Es ergibt keinen Sinn. Kann alles mögliche bedeuten. Wie kommt Schwester Buan auf den Gedanken, daß es wichtig sein könnte?«
»Sie meinte, der Ehrwürdige Cináed muß es am Abend, bevor er zur Kapelle ging, verbrannt haben.«
»Wir werden uns auf jeden Fall mit Schwester Buan unterhalten«, sagte Fidelma. »Sind jetzt Cináeds Freunde alle genannt worden? Oder gibt es noch einen … irgendeinen Freund, der ihm nahegestanden hat?«
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Abt Erc und wollte das angekohlte Stück Papier wieder an sich nehmen, doch Fidelma schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich behalte das erst mal bei mir«, entschied sie und steckte es vorsichtig in ihr
marsupium
.
Leicht verwirrt setzte sich der Abt wieder.
Conrí hatte sich die meiste Zeit nicht am Gespräch beteiligt. Jetzt hüstelte er, um auf sich aufmerksam zu machen, und warf ein: »Meine Tante, Äbtissin Faife, war eine enge Freundin des Ehrwürdigen Cináed. Niemand hat sie bisher erwähnt. Dabei ist sie Cináed in der Bibliothek oft behilflich gewesen, denn seine Augen wurden mit zunehmendem Alter schlechter.«
Der Abt wurde rot. »Äbtissin Faife, ja«, gab er gezwungenermaßen zu. »Aber sie weilt nicht mehr unter uns. Ich dachte deshalb, man müßte in diesem Zusammenhang ihren Namen nicht eigens erwähnen.«
»Im Gegenteil«, empörte sich Eadulf, »die Tatsache, daß zwischen den beiden, die durch Gewalteinwirkung zu
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