Tod vor der Morgenmesse
stolz auf ihre Buchbestände waren und sie nicht hoch genug preisen konnten.
»Die sind hier«, erwiderte Bruder Eolas, in seinem Eifer etwas gedämpft, und zeigte auf ein Regal. Er nahm eine Schreibtafel zur Hand. »Ich habe gerade an einer Zusammenstellung seiner Werke gesessen.«
Eadulf warf einen Blick darauf. »Das ist eine erstaunlich lange Liste«, bemerkte er anerkennend.
Bruder Eolas lächelte befriedigt. »Der Ehrwürdige Cináed war einer unserer besten Gelehrten. Er hatte viele Interessen. Man könnte ihn eklektisch nennen. Sogar eine Abhandlung mit dem Titel
De arte sordida gemmae
hat er geschrieben, in der er den hiesigen Handel mit Edelsteinen anprangert. Eben erst, kurz vor seinem Tod, hat er sein Manuskript Bruder Faolchair zur Abschrift übergeben. Und sein
Disputatius Computus Cummianus
über die Kalenderberechnung ist ein wahrer Klassiker, und …«
»Und
De Trinitate Interpretatio Perversa
?« fragte Eadulf.
»Du hast das gelesen?« entfuhr es dem Bibliothekar aufgeschreckt.
»Jedenfalls kenne ich welche, die es gelesen haben«, gab Eadulf wahrheitsgemäß zu und vermied es, Fidelma anzusehen.
»Es gibt mehrere hier im Kloster, denen die Schrift mißfällt«, erwiderte Eolas ohne Umschweife. »Cináed hat weit Besseres geschrieben. Gedichte in unserer Muttersprache, |110| zum Beispiel; und wie er einige unserer alten Geschichten und historischen Traditionen aufgezeichnet hat, das finden alle hervorragend. Und …«
»Und was hält man von seinen
Scripta quae ad rempublicam gerendam pertinent? «
wollte Fidelma wissen.
»Dich interessieren offenbar seine umstrittensten Werke. Wir haben sie alle hier, aber der Ehrwürdige Cináed hatte nicht nur Anhänger, er hatte auch Feinde.«
»Den Eindruck haben wir ebenfalls gewonnen«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Hast du vielleicht eine Ahnung, weshalb man ihn hat beiseite schaffen wollen?«
Der Bibliothekar schien schockiert.
»Willst du damit sagen, daß … daß ihn jemand, der mit ihm auf Kriegsfuß stand, umgebracht hat? Das ist lächerlich. Bei uns werden Geistesschaffende geachtet, auch wenn sie gegensätzliche Auffassungen vertreten. Jeder hat das Recht, seine Meinung uneingeschränkt zu äußern, seine Gedanken niederzuschreiben und seine Ansichten offen zur Diskussion zu stellen; ebensogut kann jeder eine gegenteilige Auffassung äußern, gleich ob coram publico oder privat. Wissensstreit artet nicht in Mord aus.«
»Nichts kann Zorn mehr entfachen als die Ansichten eines Gelehrten«, gab Fidelma zu bedenken und zitierte damit ihren früheren Mentor Brehon Morann.
»Das sehe ich anders«, entgegnete Bruder Eolas.
»Tut nichts zur Sache. Kommen wir lieber zu den Dingen, die mich hergeführt haben. Ich würde gern Cináeds Abhandlung über die Lenkung des Gemeinwesens lesen. Wo finde ich sie?«
Bruder Eolas konsultierte sein Wachstäfelchen und wandte sich dem nächsten Regal zu.
»Hier müßte das sein.«
|111| Er stutzte, runzelte die Stirn und ging die Bände noch einmal durch.
»Es ist nicht am Platz. Auch ein anderes seiner Werke fehlt.«
»Fehlt?« Fidelma hatte so laut ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben, daß etliche der in der Bibliothek Arbeitenden ungehalten aufblickten.
Mahnend hob Bruder Eolas einen Finger an die Lippen. Dann winkte er einem jungen Burschen zu, der einen Stapel Pergamentbögen zu einem Schreiber am anderen Ende des Saales schleppte. Der Junge entledigte sich seiner Last und kam zu ihnen. Er machte einen eifrigen Eindruck und war vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt.
»Bruder Faolchair, zwei Bücher fehlen.« Er zeigte auf die Lücken im Regal. »Sie stehen nicht dort, wo sie hingehören. Wer hat sie genommen?«
Der Junge vergewisserte sich, auf welche Titel sein Vorgesetzter anspielte.
»Das über den Handel mit Edelsteinen habe ich bei mir zur Abschrift. Das andere wurde aus der Bibliothek entliehen, Bruder Eolas.«
Verblüfft zog der Bibliothekar die Augenbrauen hoch.
»Entliehen … aus der Bibliothek?« entrüstete er sich. »Wie kann das sein? Nur der Abt und … Wer hat es mitgenommen?«
»Der Ehrwürdige Mac Faosma hat gestern früh Bruder Benen das Buch holen lassen. Und ihm steht das Recht zum Entleihen zu, Bruder Eolas.«
Der Bibliothekar schwieg eine Weile und zuckte dann hilflos mit den Schultern.
»Na gut. Geh wieder an die Arbeit.« Der Junge zögerte, wirkte verunsichert. »Schon richtig, Bruder Faolchair«, beschwichtigte ihn der Alte. »Ihm steht das Recht zu, das
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