Tod vor der Morgenmesse
Gurten über die Schulter und trug so die Bücher von Ort zu Ort; gleichzeitig waren sie ein ausgezeichnetes Hilfsmittel, um die Bibliotheksbestände in gutem Zustand zu halten. Eadulf schätzte, daß es mehrere hundert waren, die dort an den Gestellen hingen.
In anderen Regalen standen viele, offensichtlich wertvolle Ausgaben in kunstvoll gearbeiteten und wunderschön gestalteten Ledereinbänden; manche steckten in
lebor chomet,
Buchschonern, die teilweise oder auch ganz aus Metall gefertigt |107| waren. Eadulf wußte, daß auserlesene Handschriften in besonders reich verzierten Behältern aus edlen Metallen oder Holz aufbewahrt wurden. Schreine nannte man solche Umhüllungen ehrfurchtsvoll. Auch in dieser Bibliothek fanden sich an der einen Seitenwand etliche dieser kostbaren Stücke.
In der Mitte des Raumes stand eine Reihe von Pulten, an denen Kopisten und Schreiber in ihre Arbeit vertieft waren. Zu jedem Platz gehörten ein Holzstuhl und eine Schreibplatte aus Eibenholz sowie ein Aufbau mit einem Rahmen, gegen den das Buch oder die Manuskriptseite lehnten, die als Vorlage dienten. Ein Malerstock stützte die Hand des Kopisten. Ein halbes Dutzend Männer saßen über ihre Buchseiten gebeugt und schrieben mit Gänse- oder Schwanenkielen auf Pergamentbögen. Andere Gelehrte betrieben wissenschaftliche Studien und machten sich Auszüge aus den Büchern auf den üblichen Schreibtafeln, mit Wachs überzogenen Holztäfelchen. Darauf ließen sich Notizen mit dem
raibh,
einem spitzen Metallgriffel einritzen. Wurden diese flüchtigen Aufzeichnungen nicht mehr gebraucht oder hatte man sie auf die Pergamentseiten übertragen, schmolz man das Wachs und brachte es erneut in die Rahmen der Täfelchen ein.
Ein Mönch kam ihnen entgegengeschlurft, die Arme über Kreuz in den Ärmeln seiner Kutte vergraben. Durch seine gebeugte Haltung wirkte er kleiner, als er vermutlich war. Jahrelanges Studium alter Schriften war sicher schuld an seinem gekrümmten Rücken. Aufmerksam blinzelte er die Besucher an.
»Ich bin der
leabhar coimdeach
«, flüsterte er. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Ich bin Fidelma von …«
»Die
dálaigh
von Cashel?« fiel ihr der Bibliothekar ins Wort, immer noch im Flüsterton. »Ich heiße dich willkommen, Lady. Ich habe dich und deinen Gefährten, Bruder |108| Eadulf, gestern beim Abendgebet gesehen. Ich weiß, was dich hergeführt hat. Die
tech-screptra
steht dir zur Verfügung.«
»Vielen Dank. Gehe ich recht in der Annahme, daß du Bruder Eolas bist?« Der Mann neigte bestätigend den Kopf, und sie fuhr fort: »Mich interessieren die Werke des Ehrwürdigen Cináed.«
»Des Ehrwürdigen Cináed? Folgt mir.« Er führte sie in eine Ecke der Bibliothek. »Das hier ist die Abteilung mit den Werken und Schriften, die Brüder unseres Ordens verfaßt haben. Seit die Abtei besteht, haben viele kluge Köpfe zu unserem Bibliotheksbestand beigetragen. Das Buch dort zum Beispiel enthält die heiligen Gesänge des Colmán moccu Clusaig, der im Jahr der Gelben Pest unter uns weilte. Er hat viele seiner frommen Verse hier geschrieben, unter anderem auch
Sén Dé,
die Gottespreisung. Unser Chorleiter, Bruder Cillín, wurde sein enger Freund. Wenn du dich für Musik interessierst, mußt du dich unbedingt mit Bruder Cillín ins Benehmen setzen, ehe er abreist. Und in dem Band dort drüben«, er wies auf einen anderen Buchrücken, »finden sich etliche Briefe, die der Abt von Iona, Cuimine Ailbhe, an den Ehrwürdigen Cináed wegen der unterschiedlichen Auffassungen zur Datierung des Cásc-Fests geschrieben hat.« Er blickte Eadulf an. »Ihr Angelsachsen nennt das Ostern. Soviel ich weiß, besteht ihr darauf, euer Fest für die Göttin der Fruchtbarkeit beizubehalten?« Mißbilligung schwang in seiner Stimme mit. »Abt Cuimine hat die neue Festlegung, wie sie von Rom kam, akzeptiert. Aber wie viele unserer großen Gelehrten war der Ehrwürdige Cináed nicht seiner Meinung und glaubte, daß Rom mit seinen Berechnungen falsch lag. Trotzdem blieb Abt Cuimine Ailbhe dem Ehrwürdigen Cináed zugetan und übersandte ihm das von ihm verfaßte Werk
De Poenitentiarum Mensura
als Geschenk. Wir bewahren es jetzt bei uns in dem |109| Bücherschrein dort auf als eines unserer großen Schätze und …«
»Und wo stehen die Schriften des Ehrwürdigen Cináed?« versuchte Fidelma den Redeschwall des Alten zu unterbrechen. Es kostete sie einige Mühe, ihre Ungeduld zu zügeln, wußte sie doch, daß überall Bibliothekare
Weitere Kostenlose Bücher