Tod vor der Morgenmesse
es wäre nur ein alberner Streit gewesen, nichts von Bedeutung. Hätte mit seiner Arbeit zu tun. Aber ich kannte Cináed gut genug, spürte, daß hinter seiner Verharmlosung mehr steckte, daß er Angst hatte.«
»Wie hast du ihm das angemerkt?«
Schwester Buan zuckte wieder die Achseln.
»Das läßt sich schwer erklären. Ich bin auf der Halbinsel im Westen aufgewachsen. Mein Pflegevater war ein Stammesfürst, und er bestand darauf, daß seine Schützlinge die Viehzucht erlernten. So erkannte ich bald, wie Tiere unruhig und ängstlich werden. Schafe spüren, wenn ein Wolf in der Nähe ist, und man braucht nicht nach einer Erklärung zu suchen. Man sieht es ihren Körpern an, sieht, wie sie die Köpfe hin und her drehen. Das ist bei den Menschen nicht viel anders, wenn man sich sehr genau kennt, um die innersten Gefühle des anderen weiß. Man ist mit seinen Angewohnheiten vertraut. Mit Cináed ging es mir gerade so. Er mußte nichts sagen, wenn er was zu trinken brauchte oder müde wurde. Ich wußte Bescheid. Ich spürte aus der Art, wie er sich an dem Abend verhielt, daß ihn etwas beunruhigte, ihn ängstigte.«
»Hast du ihn gebeten, dir zu sagen, was verquer gelaufen war?«
|148| »Habe ich. Er entgegnete, ich solle mir keine Sorgen machen. Er sagte, und das waren genau seine Worte, er würde am nächsten Tag die Dinge in Ordnung bringen. Er würde den Abt aufsuchen und die Angelegenheit klären.«
Fidelma und Eadulf überlegten einen Moment.
»Die Angelegenheit klären? Mit dem Abt? Eine merkwürdige Wortwahl. Und weiter hat er sich nicht dazu geäußert?«
»Nein. Nach dem Gottesdienst würde er mit dem Abt sprechen, fügte er noch hinzu. Damit meinte er die Messe am Fest der heiligen Íte. Den Gottesdienst in der Gebetskapelle bereiteten er und der Abt immer gemeinsam vor. Ich hörte ihn die Wohnung verlassen und dachte, er geht diesmal aber sehr früh. Es war ja noch ganz dunkel. Ich bin nicht sicher, wann genau es war, aber Mitternacht konnte noch nicht lange vorbei gewesen sein. Ich erinnere mich nur, daß es schon hell war, als Bruder Cú Mara mir die Nachricht brachte, daß … daß …«
Fidelma legte ihr begütigend eine Hand auf den Arm.
»Und du weißt gar nichts über die Sache, die er mit Abt Erc klären wollte?« forschte Eadulf sanft.
Sie schüttelte den Kopf und gewann ihre Fassung wieder.
»Hast du sonst jemand von seinem Entschluß erzählt?«
»Dem Abt natürlich.«
»Ah! Und was hat er dazu gemeint?«
»Er sagte, er wüßte von nichts, was zu klären gewesen wäre. Er vermutete, daß irgendein Gesichtspunkt in seiner Arbeit Cináed Kopfzerbrechen bereitete. Und oh, ach ja. Ich gab dem Abt ein Stück Papier, das ich von der Feuerstelle genommen hatte. Als ich zu Bett ging, hatte es da noch nicht gelegen, ich fand es erst am nächsten Morgen. Offenbar muß Cináed nachts etwas verbrannt haben.«
Fidelma zog das Papier vorsichtig aus ihrem
marsupium.
»War es das hier?«
|149| Schwester Buan schaute überrascht darauf und nickte dann.
»Der Abt hat es mir übergeben«, erklärte Fidelma. »Was glaubst du, könnte es bedeuten.«
»Für meine Begriffe war da eine Nachricht auf dem Zettel, mit der Cináed in jener Nacht in die Kapelle gelockt wurde. Schau mal her, manches kann man noch entziffern: ›Mitter nacht ‹ ist ganz deutlich zu lesen, und ›Orat …‹ ist halb verbrannt, könnte aber ›Oratorium‹ bedeuten, und ›allein‹ könnte die Aufforderung sein, allein zu kommen. Das nächste Wort ist Teil eines Namens – ›Sin‹.«
Fidelma schürzte die Lippen und sah die Frau nachdenklich an.
»Du hast einen scharfen Blick, Schwester Buan.«
»Den bekommt man, sowie man Verdacht schöpft. Cináed liebte seine Arbeit, und selbst wenn dieser hochfahrende Mensch Mac Faosma ihn in öffentlicher Disputation herausforderte, hat ihn das nicht aus der Ruhe gebracht. Die Ansichten anderer Leute waren ihm ziemlich gleichgültig, weil er unerschütterlich an seinen Überzeugungen festhielt. Doch an jenem Abend muß ihn etwas erregt haben. Ich glaube nicht, daß es ihm da um ein Problem in seinen Studien ging. Ich bin überzeugt, daß er von seinem Mörder ins Oratorium, in den Andachtsraum, gelockt wurde.«
»Du sprichst von den Disputationen. Hast du Cináeds Streitgesprächen beigewohnt, und konntest du seiner Beweisführung folgen?« Eadulf ließ nicht locker. »Hast du seine Argumente soweit verstanden, daß du dir eine Meinung bilden konntest, ob Cináed recht hatte und
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