Tod vor der Morgenmesse
…
Cormac Cas herrschte über Muman
lange vierzig Jahre unbesiegt,
doch am Flusse Siur schmählich durchkreuzte
der grimme Tod sein ehrgeiziges Streben.
Eadulf lauschte dem Gesang, den wild wechselnde Rhythmen belebten, doch hatte er diese Lieder schon öfter gehört, und nach einer Weile langweilten sie ihn. Müdigkeit überkam ihn, und ihm fielen die Augen zu. Beinahe wäre er eingenickt. Plötzlich anschwellende Töne rüttelten ihn wach.
Sechs Mönche hatten den Platz des jungen Barden eingenommen. Aus voller Kehle schmetterten sie einen der Gesänge des Neuen Glaubens; die Worte waren ein seltsames Gemisch aus der Sprache der Éireannach und Latein. Erst kürzlich hatte er die Melodie woanders gehört.
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Regem regum rogamus – in nostris sermonibus
der Noah schützte und seine Schar –
diluvii temporibus.
Melchisedek rex Salem – incerto de semine,
Seine Gebete mögen uns beschirmen –
ab omni formidine.
Den Herrn, der Lot vorm Feuer bewahrte,
qui per saecla habetur,
Ut nos omnes, precamur – liberare dignetur.
Das war ein lustvoller Gesang. Woher kannte er ihn nur?
Als das Fest sich dem Ende zuneigte, fand Eadulf Gelegenheit, mit einem der Sänger ins Gespräch zu kommen. Es war ein Mann mit breiter Brust, der Bariton sang.
»Das ist ein neues Lied, Bruder«, erklärte er lachend auf Eadulfs Frage. »Colmán mac Uí Clusaim hat es geschrieben. Der ist mit seinen Leuten von der Abtei bei der Stadt im Marschland auf die Inseln gezogen, um der Gelben Pest zu entkommen, die auf dem Festland wütete. Er und seine Glaubensbrüder haben es oft gesungen und damit um Gesundheit gebeten.«
»Dann kann es erst vor wenigen Jahren entstanden sein.«
»Stimmt. Ist doch ein prächtiges Lied, nicht wahr, Bruder?«
»Ein geistliches Lied, gesungen nach der Melodie eines gallischen Schlachtgesangs«, bemerkte Eadulf sinnend.
Beinahe ehrfürchtig schaute ihn der Sänger an.
»Du kennst dich in solchen Sachen aus, Bruder?«
Eadulf zuckte die Achseln. »Ein bißchen schon«, gab er zu. »Ich habe ein paar von diesen Kirchengesängen bei Bruder Cillín in Ard Fhearta gehört.«
Jetzt war der Mann hellwach. »Bruder Cillín? Dann bist du auch einer vom Endlosen Kreis?«
Eadulf mühte sich, seine Überraschung zu verbergen. Mit dem Begriff mußte es eine besondere Bewandtnis haben. Den |249| Ausdruck hatte er schon mal gehört. Doch wo, und was bedeutete er?
Er lächelte und senkte verschwörerisch die Stimme. »Sind nicht die Erleuchteten alle eins mit dem Endlosen Kreis?« äußerte er vage und hoffte, daß es überzeugend klang.
Zu seiner Überraschung streckte ihm der Sänger die Hand entgegen.
»Fürwahr. Und unser großer Tag ist gewiß nicht mehr fern. Bruder Cillín hat uns das fest versprochen. Wir werden darauf vorbereitet sein. Sehe ich dich in Ard Fhearta bei unserer nächsten Zusammenkunft mit Bruder Cillín wieder?«
»Du kennst ihn also gut?« fragte Eadulf. »Bruder Cillín, meine ich?«
»Er war vor zwei Monden hier und hat mit unserem kleinen Sängertrupp geprobt?«
»Mit euch geprobt? Hier in Daingean?«
»Ja.«
Einer seiner Ordensbrüder rief den Sänger plötzlich fort. Um Entschuldigung bittend, lächelte er Eadulf an und verabschiedete sich mit den leise gesprochenen Worten
»Sic itur ad astra!«
Er war verschwunden, ehe Eadulf noch etwas erwidern konnte. Der stand grübelnd da, als Fidelma zu ihm trat.
»Warum so nachdenklich, Eadulf?«
»Sic itur ad astra!«
sagte er nur.
»So geht man zu den Sternen?« wiederholte Fidelma. »Was willst du damit zum Ausdruck bringen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Jemand hat es zu mir gesagt. Was heißt es eigentlich?«
»Dein Latein ist so gut wie meins. Wenn du eine weniger wörtliche Übersetzung willst, könnte es bedeuten: Dies ist der Pfad zur Unsterblichkeit. Wie kommst du darauf?«
Eadulf schilderte ihr kurz seine Begegnung mit dem Sänger.
|250| »Möglicherweise ist es eine Geheimgesellschaft, die Bruder Cillín gegründet hat, könnte was mit der Art des Chorsingens zu tun haben. Es gibt verschiedene Richtungen in den Kirchen, vor allem unter den Franken und Romanen. Ihre Angehörigen bilden kleine Gruppen und halten sich törichterweise für die herausragendsten ihres Berufsstandes. Ähnlich den Handwerkergrüppchen, die sich mit ihren Geheimgesellschaften brüsten wie spielende Jungen.«
Es wurde spät, und da Slébéne und seine Dame sich bereits verzogen hatten, meinte Fidelma, sie und ihre Begleiter
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