Todesacker
sie bezwungen zu haben, beschleichen und überraschen. Sie lauerte im Körper und wartete auf einen schwachen Augenblick. Doch Diane Fry wusste, dass sie nicht schwach war – nicht mehr.
Abhängigkeit war etwas für andere, aber nicht für sie.
7
Freitag
J amie Ward wachte am nächsten Tag spät auf. Er blieb eine Weile im Bett liegen und horchte auf Geräusche im Haus oder draußen auf der Straße, ohne genau zu wissen, was er zu hören erwartete. Die Doppelhaushälfte seiner Eltern befand sich in einem besseren Außenbezirk von Edendale, in der Nähe des besten Gymnasiums und der hübschesten Kirche. Die Sirenen ertönten immer auf der anderen Seite der Stadt in den Wohnsiedlungen.
Zunächst sträubte sich Jamie dagegen, sich den Vortag ins Gedächtnis zu rufen, doch nach und nach kamen die Erinnerungen zurück. All die Details waren noch immer da, frisch und lebendig. Der Schlamm, die Polizei, die Auseinandersetzung. Die Hand.
Und dann kam er plötzlich zu der Überzeugung, dass dieser Tag kein normaler Tag werden konnte, nach dem, was auf der Pity Wood Farm geschehen war. Es war unvorstellbar, dass das Leben in seiner alltäglichen Routine weitergehen würde. Aufstehen, frühstücken, joggen gehen, mit Freunden am Telefon plaudern. Das würde sich einfach nicht richtig anfühlen.
Jamie ging ins Badezimmer und fand seine schlammverschmierten Jeans ganz oben im Wäschekorb. An seinem ersten Arbeitstag auf der Baustelle war er in Turnschuhen erschienen. Er hatte sein zweitbestes Paar getragen, nicht die modischen Turnschuhe, die er anzog, wenn er mit seinen Freunden ausging. Und Nikolai hatte ihn ausgelacht. Alle anderen hatten dasselbe getan, allerdings nicht ganz so offensichtlich.
»Kleiner Jamie, möchtest du deine Zehen verlieren?«, hatte Nikolai ihn gefragt, sich eine Benson and Hedges angezündet und den Rauch zu seinen Füßen geblasen. »Junge, so überstehst du auf meiner Baustelle nicht mal einen Tag. Wir besorgen dir anständige Stiefel, okay?«
»Okay, Nikolai.«
»Nenn mich Nik.«
Das meiste von dem, was auf der Baustelle vor sich ging, war Jamie ein Rätsel. Die Maurer, Zimmerer und Stuckateure waren geschickte Männer, die schnell und oft schweigsam arbeiteten und dabei mit Werkzeugen hantierten, deren Namen er nicht einmal kannte.
Einiges war offensichtlich – die Gräben, die für die neuen Abflussleitungen ausgehoben wurden, der Kies, der für die Zufahrt zur Baustelle aufgeschüttet worden war. Doch ein paar Dinge waren ihm merkwürdig vorgekommen. Wenn er mit den anderen Männern vertrauter gewesen wäre, hätte er sie nach den Gründen für das gefragt, was sie taten. Jamie wusste, dass man nachfragen sollte, wenn man etwas nicht verstand, und dass man keine Angst davor haben sollte, dumm zu wirken. Wenn man keine Fragen stellte, erhielt man auch keine Antworten, und das war wesentlich dümmer, oder etwa nicht?
Das einzig Gute daran, wie Nikolai und die anderen ihn auf der Baustelle behandelt hatten, war, dass sie nicht immer darauf geachtet hatten, ob er sich in ihrer Nähe aufhielt oder wie hart er arbeitete.
Jamie duschte und stöberte saubere Kleidung auf. Dann machte er sich auf die Suche nach seiner Mutter, um sie zu fragen, ob er sich ihren Wagen ausleihen und damit nach Rakedale fahren durfte.
Als Cooper an diesem Morgen an seinem Schreibtisch ankam, erwarteten ihn dreiundvierzig neue E-Mails. Keine Spam-Mails, keine Spaß-Mails, keine Privat-Mails – die hatte die IT-Abteilung gemäß den Polizeirichtlinien alle blockiert. Nein, diese dreiundvierzig standen allesamt im Zusammenhang mit der Arbeit. Natürlich nicht unbedingt im Zusammenhang mit seiner Arbeit. Trotzdem musste er leider jede Einzelne davon öffnen und ganz durchlesen, ehe er sich sicher sein konnte, dass sie ihn nicht betraf.
Heute hatte er einen ziemlich typischen Schwung E-Mails bekommen. Dazu gehörten die üblichen Anfragen der Strafjustizabteilung nach fertigen Zeugenaussagen und Kopien von Notizbucheinträgen. Außerdem war eine Reihe von Anweisungen und Ratschlägen vom Führungsstab dabei, die sich zu einem großen Teil auf die wichtigsten Erfolgskennzahlen bezogen. Von der Police Federation hatte er ebenfalls ein paar E-Mails erhalten, außerdem Ankündigungen fünf völlig neuer Bestimmungen und Arbeitsvorschriften, die allesamt im kommenden Monat in Kraft traten.
Zu jeder neuen Bestimmung gab es begleitende Dokumente, und es wurde von ihm erwartet, sie zu studieren und zu lernen und
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