Todesahnung: Thriller (German Edition)
der Leitung, ein paar Sekunden später meldet sie sich wieder. »Es ist Kristin Burns«, sagt sie.
Ist das etwa ein Witz?
»Michael, bist du das?«, frage ich.
Wieder ein Klicken, und ich warte.
Doch die Vermittlung meldet sich nicht mehr.
Niemand meldet sich.
Die Leitung ist tot.
Wahrscheinlich will Kristin Burns nicht mit mir reden.
29
Ich weiß nicht, was ich nach diesem Anruf denken soll, außer dass mir wirklich nicht danach zumute ist, in meiner Wohnung herumzuhängen. Vielleicht weil ich nicht aufhören kann zu zittern.
Das Wort »komisch« trifft als Beschreibung für die Vorgänge den Nagel schon längst nicht mehr auf den Kopf.
In Zeiten wie diesen - hm, als hätte es in meinem Leben schon Zeiten wie diese gegeben - versuche ich, alles in einem größeren Rahmen zu sehen. Zum Beispiel: Eine Sekunde lang ist das ganze Universum kleiner als ein Stecknadelkopf, in der nächsten ist es eine Milliarde Mal größer als die Erde. Und was genau lässt sich daraus lernen?
Zum Glück muss ich etwas erledigen. Besorgungen machen tut gut, wenn man glaubt, man würde völlig am Rad drehen. Nachdem ich also geduscht und mich angezogen habe, winke ich ein Taxi herbei, das mich zu Gotham Photo in Chelsea bringen soll. Meine Kamera braucht ein neues Objektiv.
»Hi. Ist Javier heute hier?«, frage ich, während ich zur Ladentheke schreite. Mein Zittern hat endlich aufgehört, wie ich feststelle. Hey, und das Lied in meinem Kopf ist auch verschwunden.
»Er ist hinten«, antwortet der Angestellte. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Wenn es nicht stört, würde ich gerne auf ihn warten.«
»Klar, ich sag ihm Bescheid. Sie sind Kristin, stimmt’s?«
»Ganz genau.«
Alle Mitarbeiter bei Gotham Photo sind freundlich, sie wissen, wovon sie reden, doch Javier ist mein Lieblingsverkäufer. Er schafft es, mir die eher technischen Aspekte von Linsen und Filmen zu erklären, ohne dass ich mich wie eine Amateurin fühle. Netter als er kann man nicht sein.
»Wie geht’s dir, Kristin? Schön dich zu sehen«, begrüßt er mich lächelnd. Er ist groß und dünn und kultiviert und hat etwas Sanftes.
Wir plaudern eine Weile über alles und nichts - solange es mit Fotografie zu tun hat. Für Javier ist dies hier nicht nur Arbeit, sondern eine Berufung. Er liebt Kameras über alles. Seine erste Kamera, eine Rollei 35, hat er als Sechsjähriger von seiner Mutter geschenkt bekommen, erzählte er mir einmal.
Das kann ich mir gut vorstellen.
»Und wann werde ich über dich was im Blind Spot lesen?«, fragt er. Er meint die Zeitschrift, in der sowohl über berühmte als auch über aufstrebende Fotografen berichtet wird.
»Sobald ich ein neues Objektiv habe«, antworte ich.
Ich erzähle ihm, dass meins kaputtgegangen ist, woraufhin wir ein neues aussuchen. Wir entscheiden uns schließlich für das neuste Modell von Leica, das er wärmstens empfiehlt.
»Es ist leichter und macht schärfere Bilder«, erklärt er. »Und das Beste ist, es kostet dich über hundert Dollar weniger als dein altes.«
Na, bevor ich mich schlagen lasse.
Während er den Verkaufsbeleg ausschreibt, erzähle ich ihm von dem durchscheinenden Effekt auf den Bildern, die ich vor dem Hotel gemacht habe. Leider habe ich nicht daran gedacht, sie mitzunehmen. Ich beschreibe die Panne, so gut ich kann, doch solange Javier das Ergebnis nicht sehen kann, muss ich mich mit seinen gut gemeinten Erklärungsversuchen begnügen. Die meisten sind mir selbst bereits eingefallen, einige nicht.
»Wenn es natürlich was mit deinem alten Objektiv zu tun hat, ist dein Problem jetzt gelöst«, folgert er und grinst.
Dies will ich unbedingt herausfinden, also knipse ich drauflos, sobald ich den Laden verlassen habe. Bis ich zu Hause bin, muss die Rolle voll sein.
Ich schieße ein paar Bilder von einem penibel gekämmten Lhasa Apso, der von einer Frau spazieren geführt wird, die wie Nancy Reagan aussieht. Weiter geht’s in Richtung Norden, wo ich an zwei kastenförmigen Möbelpackern vorbeikomme, die versuchen, einen riesigen Schrank auf ihren Laster zu hieven. Sie schneiden so schreckliche Grimassen, dass sie schon wieder schön sind.
Klick, klick, klick.
Ich muss lächeln. Nirgendwo fühle ich mich wohler als hinter meiner Kamera. Es entspannt mich und gibt mir gleichzeitig Energie. Man sieht Menschen in einem völlig anderen Licht. Klar, es heißt, die Augen sind die Fenster zur Seele, doch mir gibt erst das Auge der Kamera einen
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