Todesangst
Kompetenz zu zweifeln. Im Gegenteil - er war eigentlich in jeder Situation davon ausgegangen, doch eher etwas mehr als nur durchschnittlich befähigt zu sein. Jetzt jedoch war er sich dessen nicht mehr so sicher. Derartige Bedenken, die ihm da plötzlich kamen, waren höchst unwillkommen, besonders da er seit Danielles Tod die Arbeit praktisch zur einzigen Quelle seiner Selbstbestätigung gemacht hatte.
»Wo sind Sie denn nur gewesen?« fragte Sally, die sich sofort auf ihn gestürzt hatte, als er versucht hatte, unbemerkt in sein Büro zu schlüpfen. Innerhalb weniger Minuten hatte sie ihn mit einem Haufen alltäglicher Probleme zugedeckt, die glücklicherweise seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Als er wieder etwas verschnaufen konnte, war es bereits kurz nach zwölf. Er kümmerte sich um seinen letzten Patienten, der ein paar Ratschläge und die notwendigen Impfungen für eine Indienreise erbeten hatte, und dann hatte er erst mal frei.
Claudia versuchte ihn zu überreden, mit ihr und ein paar anderen Sekretärinnen zum Mittagessen zu gehen, doch er lehnte ab. Er zog sich in sein Büro zurück und brütete vor sich hin. Was ihm immer am meisten zu schaffen machte, war Frustration. Er spürte, daß irgend etwas nicht stimmte, und zwar auf ganz schreckliche Weise, aber er wußte nicht, was es war oder was er hätte tun können. Ein Gefühl der Verlassenheit ergriff ihn.
»Verdammt noch mal«, murmelte Howard vor sich hin und schlug mit der flachen Hand auf die Platte seines Schreibtischs, daß ein paar Papiere davonflatterten. Er mußte sich davor hüten, in Depressionen zu verfallen - er mußte einfach etwas unternehmen. Er zog seinen Arztkittel aus und schlüpfte in seine Jacke, steckte seinen Piepser ein und ging zu seinem Wagen hinunter. Er fuhr um den Fenway-Park herum, am Gardner-Museum und am Kunstmuseum vorbei, dann auf dem Storrow Drive nach Süden. Schließlich bog er in Richtung Arlington ab - sein Ziel war die Bostoner Polizeizentrale.
Dort schickte ihn ein Polizeibeamter in den vierten Stock, wo er gleich beim Heraustreten aus dem Aufzug auf den Mann stieß, den er suchte. Curran trug eine große Tasse voll Kaffee in der Hand, hatte die Jacke ausgezogen, den obersten Knopf an seinem Hemd geöffnet und die Krawatte ein ordentliches Stück gelockert. Unter seiner linken Achsel baumelte ein abgewetztes Lederholster. Als er Howard auf sich zutreten sah, mußte er sich erst einen Augenblick besinnen, bis dieser ihn daran erinnerte, daß sie im Leichenschauhaus und im GHP-Gebäude miteinander gesprochen hatten.
»Ach ja«, sagte er dann, »der Fall Alvin Hayes.«
Er bat seinen Besucher, mit ihm in sein Büro zu kommen, das mit dem Metallschreibtisch und den Aktenschränken aus Stahlblech äußerst nüchtern wirkte. An der Wand hing ein Kalender mit dem Terminplan der Baseballmannschaft Celtic. »Wie wär’s mit einem Schluck Kaffee?« fragte der Kriminalbeamte und stellte erst einmal seine eigene Tasse ab.
»Nein, vielen Dank«, antwortete Dr. Howard.
»Sie sind vernünftig«, meinte Curran. »Jeder klagt über die ständige Kaffeetrinkerei, aber der Kram hier ist auch absolut tödlich.« Er zog einen Stuhl heran und forderte den Arzt mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.
»Also, Herr Doktor, was kann ich für Sie tun?«
»So genau weiß ich das eigentlich auch nicht. Diese Geschichte mit Dr. Hayes geht mir im Kopf herum. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen sagte, er hätte mir von einer bahnbrechenden Entdeckung erzählt? Inzwischen bin ich der Meinung, daß da wirklich etwas dran sein könnte. Immerhin war der Mann ein weltbekannter Forscher, und er war auf einem sehr vielversprechenden Gebiet tätig.«
»Einen Augenblick bitte. Sagten Sie mir nicht auch, daß Sie überzeugt davon seien, der Mann hätte einen Nervenzusammenbruch?«
»Zu der Zeit war ich der Überzeugung, daß der Mann ein anormales Verhalten zeigte; ich ging davon aus, daß er verwirrt und paranoid war«, sagte Howard. »Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Was wäre, wenn er tatsächlich eine derart bahnbrechende Entdeckung gemacht hätte, aber noch nicht darüber berichten wollte, weil er noch an ihrer Verbesserung arbeitete? Stellen Sie sich mal vor, irgend jemand sei dahintergekommen und wollte das, aus welchen Gründen auch immer, verhindern?«
»Und deswegen hat er ihn dann umgebracht?« unterbrach ihn Curran gönnerhaft-väterlich. »Aber, Herr Doktor - vergessen Sie doch bitte nicht eine ganz wesentliche
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