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Todesblueten

Todesblueten

Titel: Todesblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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nicht mehr rasiert. Schwarze Stoppeln wucherten auf seinem Kinn. Ich hätte nicht gedacht, dass es möglich gewesen wäre, Alex noch weniger zu mögen, als ich es ohnehin schon tat, doch als er Melanie an genau der Stelle am Arm packte, wo der rote Fleck war, ging mir auf einmal ein Licht auf.
    »Komm, Mellie«, sagte ich. »Diesmal fahren
wir
zusammen in einem Boot.«
     
    Später hingen wir wieder in Lübbenau rum, diesmal am kleinen Hafen. Wir warteten wie schon am Tag zuvor darauf, dass Alex' neue Freundin ihm das Handy auflud. Eigentlich war mein eigenes Handy auch kurz vorm Absterben, aber irgendwie wollte ich mich nicht so wie Alex aufspielen. So notgeil nach Strom und Internet. Und am allerwenigsten wollte ich ihn bitten, bei dem »alten Chick« auch für mich ein gutes Wort einzulegen. Lieber blieb ich für den Rest der Woche ohne Handy. Tobi meldete sich ja doch nicht. Und ich hatte auch meinen Stolz, ich würde ihn nicht weiter nerven. Meinen Eltern hatte ich schon signalisiert, dass alles wunderbar war, Mellie und ich herrliche Tage auf dem tollen Hausboot verbrachten und tonnenweise Spreewälder Gurken aßen.
    Eine Schwanenfamilie kam angeschwommen, was die Gäste des Cafés in Entzücken versetzte. Als ich mich vorbeugte, zischte der Schwanenvater mich so böse an, dass ich erschrocken zurückfuhr. Offenbar wollte er nicht, dass Menschen sich seinen Kleinen zu sehr näherten. Warum er sich aber nicht an dem Schwimmer genau neben ihm störte, das verstand ich nicht.
    Ich lehnte mich zurück, nippte an meiner Cola und beobachtete David, der gerade die Augen zusammenkniff, an seiner Zigarette zog und den Rauch ausblies. Er schien tief in Gedanken versunken zu sein und so blickte ich wieder aufs Wasser.
    Irgendwas Seltsames hatte ich eben gedacht, doch es war mir wieder entglitten. Was war es nur? Es hatte was mit dem Wasser zu tun. Ich blinzelte. Das Wasser. Die Schwäne . . . Der Schwimmer. Wieso schwamm hier jemand? Das war doch nahezu verboten, wegen all der Scherben? Und überhaupt . . . In dieser dunklen Brühe? Ich stand auf. Wer war so bescheuert? Die Schwäne waren immer noch da, ein Schwan drehte ruckartig den Kopf herum, als ich mich näherte.
    »Ist ja gut«, sagte ich leise. »Ich tu euch doch nichts.«
    Wo war der Schwimmer jetzt? Merkwürdig. Ich setzte mich auf die Holzplanken und ließ meine Füße ins Wasser baumeln. Brühe hin oder her   – es war auf jeden Fall schön kühl.
    »Willst du noch was trinken?«, rief Mellie mir zu.
    »Ich . . .« Und dann sah ich es wieder. Tauchte da einer? Sogar in Klamotten? Ich konnte einen Turnschuh sehen. Was hatte der Kahnfahrer erzählt? Jugendliche schwammen hier immer wieder, obwohl es eigentlich gefährlich war? Ich beugte mich vor. Wo war der Typ? Plötzlich sah ich eine Hand. Sie sah so komisch aus. So weiß und so durchsichtig. Die Wassermänner, fiel es mir ein. Die Elfen . . . Die irrigsten Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie ein Film, der rasend schnell vorwärts spulte.
    Bis zum nächsten Bild. Unter der Wasseroberfläche, fast auf dem dunklen, schlammigen Grund des Kanals: weißgrauer Stoff. Rosa Turnschuhe. Jeansshorts. Glitschige, zerfaserte Haare, in Dreadlocks zusammengezwirbelt. Weiße Haut an den Beinen, kaum noch menschlich. Seltsam aufgedunsen. Ein Pfund Ketten um den Hals, das Gesicht nach unten im Wasser. Eine rosa Blüte, die wie trunken im Haar hin und her schwang.
    »Mellie«, krächzte ich.
    Niemand hörte mich. Die Restaurantmusik spielte einen Schlager. Jemand lachte und Alex rief »Geil!«. Es klang meilenweit weg.
    »Mellie«, sagte ich erneut, diesmal lauter. Ich nahm eine Bewegung am Tisch wahr. Melanie drehte sich nach mir um.
    »Mellie!«, schrie ich hysterisch. »Komm her!«
    Stühle scharrten.
    »Was ist denn?«
    »Was brüllst du denn so?«
    »Voll der Gehirntod, wie die rumschreit, echt!«
    »Fuck!«
    »Oh Gott!«
    Ich hob den Kopf. Da waren Mellie, Alex, die Kellnerin, die ein Tablett fallen ließ, ein Rentnerehepaar, das sich aneinander festhielt, der fauchende Schwan, Menschen, die angerannt kamen, Menschen, die sich die Hände vors Gesicht hielten.
    Und da war Davids Gesicht. Erschrocken, das schon.
    Aber auch einen winzigen Moment lang triumphierend.

6.
    Die kleine Terrasse des Cafés war im Nu voller Menschen. Während ich entsetzt vom Kanal wegtaumelte, konnten andere Leute offenbar gar nicht genug bekommen. Sie drängten und schoben, um einen guten Blick auf die Leiche im Wasser zu erhaschen.

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