Todesblueten
Der aus dem weißen Hausboot mit der jungen Freundin. Er trug ein Poloshirt und Shorts. Auf seiner Stirnglatze standen Schweißtropfen und ich konnte sehen, dass eine Ader an seiner Schläfe pulsierte. Herausfordernd machte er einen Schritt auf mich zu, genau in dem Moment, als ich einen zurücktrat.
»So, Kleine«, sagte er mit rauer Stimme. »Und jetzt her mit dem scheiß Handy.«
20.
Ich schnappte vor Schreck nach Luft. Antworten konnte ich nichts, ich brachte einfach keinen Ton heraus. Der Mann sagte etwas, doch ich verstand ihn nicht, weil mein Herz so laut klopfte und etwas in meinem Kopf anfing zu rauschen. Er trat auf mich zu und ich wich weiter zurück.
Was
wollte der? Mein Handy? Es war nichts Besonderes, nur so ein billiges Ding, mit Prepaidkarte. Mehr rückten meine Eltern nicht raus.
»Na, los jetzt, wird's bald?«, sagte der Mann. Er war so nahe gekommen, dass ich seinen Schweiß und sein komisches Aftershave riechen konnte.
»W-wieso?«, gelang es mir endlich zu sagen.
»Wieso?«, äffte er mich nach. »Gib's mir einfach, okay? Ich brauch das mal kurz.«
»Ich kenne Sie doch gar nicht«, antwortete ich. Tickte der Typ noch ganz richtig? Konnte der sich kein Handy leisten? Wieso rannte der mir hier über den Weg? Oder hatte er mich absichtlich verfolgt? Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Mann war so unmittelbar vor mir, dass ich nur noch ein entsetztes Japsen von mir geben konnte. Er riss mir mein Telefon aus der Hand und stieß mich unwillig von sich,als ich versuchte, es ihm wieder wegzunehmen. Tränen schossen mir in die Augen, aus Wut über diese Behandlung, aus Panik . . . und aus Angst. Warum machte der das? Er starrte auf das kleine Display und drückte auf den Tasten herum, aber es ging nicht an.
»Warum geht das nicht?«, herrschte er mich an.
»Der Akku ist leer. Glaube ich«, stotterte ich.
Der Mann fluchte leise.
»Kann ich es also wiederhaben?«, bat ich. »Ich suche meine Freundin.« Warum ich ihm das sagte, wusste ich selbst nicht. Damit er Mitleid bekam?
»Mir egal«, sagte der Mann. So viel zum Mitleid. »Ihr könnt hier nicht einfach fremde Leute fotografieren, wie die Paparazzi, das weißt du doch wohl, oder?«
»Was?«, fragte ich verblüfft. Ich hatte immer noch meine Hand ausgestreckt, in der Hoffnung, dass der Typ mein leeres, nutzloses Handy wieder dahinein legen würde, aber zu meinem Entsetzen schob er es in seine Hosentasche.
»Kauf dir ein neues«, sagte er. »So ein Billigteil bekommst du überall.« Und damit drehte er sich um und lief weg.
»Hey!«, schrie ich ihm hinterher. »Gib das zurück! Das ist mein Handy!«
Er drehte sich nicht mal nach mir um. Ich lief ihm ein paar Schritte hinterher und blieb dann stehen. Wollte ich mich wirklich mit diesem fremden, eindeutig durchgeknallten Typen anlegen? Mit ihm kämpfen?Ich schluchzte erschöpft. Wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht und zog die Nase hoch. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich wollte nur noch nach Hause. Weg von hier aus diesem Stachelwald, von Mücken gepeinigt, von Verrückten beklaut, von meiner besten Freundin verlassen . . . Tränen verschleierten mir den Blick, ich stapfte wie ferngesteuert den Weg entlang. Zurück, zurück, zurück. Mit jedem Schritt schoss jetzt ein dumpfer Schmerz durch meine Zehe, aber ich zwang mich, nicht daran zu denken. Wo war Melanie? Hatte sie vielleicht auch eine unschöne Begegnung mit diesem Mann gehabt? Was hatte der gesagt? Dass wir nicht einfach Leute fotografieren konnten? Ich versuchte, mir das bullige Gesicht in Erinnerung zu rufen. War der Typ vielleicht berühmt? Das musste es sein. Vielleicht irgendein bescheuerter C-Promi , der nicht wollte, dass ich von ihm Fotos machte? War es das? War Melanie ihm begegnet und frech geworden, sodass er, sodass er . . .
»Melanie«, rief ich verzweifelt. Meine Stimme verlor sich in den Bäumen, schien kaum aus dem dichten Geäst hinauszudringen. Dieser Wald war wie ein Gefängnis. Ich rutschte ab und trat in eine Pfütze. Keine Pfütze. Ein morastiger kleiner Bach. Er wurde breiter. Ein kleiner Flussarm. Und der führte zum . . . Weiter vorn wurde es heller. Durch die Zweige sah ich etwas funkeln. Der See. Ich kam wieder zum See! Gott sei Dank.
Ich stieß einen Jubelschrei aus und versuchte, schneller zu laufen. Mann, das war doch das Dach von unserem Hausboot. Jetzt konnte ich es ganz deutlich sehen – ich kam nur zwanzig Meter weit weg von der Stelle heraus, an der wir vor einer halben Ewigkeit
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