Todesbrut
Benjamin los. Er packte ihn und schlug auf ihn ein.
»Nicht, Papa, nicht!«, rief Dennis. »Er will uns doch nur helfen! Er hat doch recht, Papa! Lass es uns versuchen!«
50 Wie aus dem Loch im Zahnfleisch nachdem ein Zahn herausgerissen wurde, irgendwann kein Blut mehr kommt, egal, wie groß der Krater ist, so beruhigte sich auch Lukkas Wunde. Sie hing kreidebleich und erschöpft auf dem Beifahrersitz. Sie glaubte, das Schlimmste sei überstanden, als Antje hinter ihr loskreischte.
Charlie fand, dass er mit den Mädels bisher sehr geduldig gewesen war. Aber jetzt reichte es ihm. Antje brüllte ihm so sehr ins Ohr, dass es wehtat.
Am liebsten hätte er sie alle drei rausgeschmissen. Er wollte nur noch seine Ruhe haben.
Antje drückte sich ganz in die Ecke und trat mit den Füßen nach Regula. »Die ist krank! Die ist krank!«, rief sie. »Ich will hier raus!«
Lukka war zu schwach, um sich darum zu kümmern. Sie beschloss, einfach hier sitzen zu bleiben und alles geschehen zu lassen. Wenn dies der Tag war, an dem sie sterben sollte, dann war es jetzt eben so weit.
Sie hatte auch keine Lust mehr, Antjes Freundin zu sein. Aus dem fröhlichen Girlie war eine hasserfüllte, aggressionsgesteuerte Furie geworden. Lukka konnte sich diese Veränderung überhaupt nicht erklären, wollte aber mit Antje nichts mehr zu tun haben.
Die drückte jetzt ihre Füße gegen Regulas Brust. Das Mädchen wehrte sich nicht.
»Äi, lass das!«, regte sich Charlie auf. »Bist du völlig bescheuert?«
»Die soll aus dem Auto! Raus aus dem Auto! Warum gehen hier hinten die Türen nicht auf?«
»Das ist die Kindersicherung. Ich fahr doch sonst manchmal die Kinder meiner Schwester …«
»Kindersicherung? Ich will keine Kindersicherung! Mach das auf. Die soll hier raus! Die bringt uns alle um!«
Regula hustete. Das hatte aber nichts mit ihrer Krankheit zu tun, sondern mit dem Druck, den Antjes Füße auf ihre Brust ausübten. Ihr Gesicht war völlig verschwitzt, ihre Augen lagen in tiefen, schwarz umrandeten Höhlen.
Charlie kniete jetzt auf dem Fahrersitz und schlängelte seinen Oberkörper seitlich an der Kopfstütze vorbei, um Regulas Stirn zu berühren. Sie war heiß.
Er versuchte, Antje zu bändigen, und zog ihre Beine weg. »Lass das, verdammt!«
»Sie soll raus, sie soll raus oder ich hau ab! Wir können sie nicht bei uns im Auto lassen!«
Charlie löste die Kindersicherung an Antjes Seite. Er hatte damit genau den erwünschten Erfolg. Sie ließ von Regula ab, stieß die Tür auf, ließ sich aufs Deck fallen und rollte ein paar Meter über den Boden.
Jetzt, da sie draußen war, hauchte Regula in Charlies Richtung: »Danke«, und dann sagte sie mit so schwacher Stimme, dass er es kaum verstand: »Bitte, schmeißt mich nicht raus. Bitte, helft mir.«
Das rührte Charlie zutiefst. Am liebsten hätte er ihr versprochen: Ich bring dich sicher nach Hause, du musst dir keine Sorgen machen. Alles wird gut. Du kannst dich auf mich verlassen. Aber er unterdrückte diesen Impuls, denn er hatte Angst, etwas zu sagen, das er später nicht würde halten können.
Antje raffte sich jetzt wieder auf, schnappte draußen in tiefen Zügen frische Luft und rief ins Auto hinein: »Äi, was ist, wollt ihr sie drin lassen und mich draußen? Seid ihr jetzt völlig bescheuert geworden? Sie ist krank! Guckt sie doch an!«
»Halt die Schnauze!«, gab Charlie hart zurück.
Antje versuchte es noch einmal. »Leute, das ist nicht irgend so ’ne kleine Erkältung. Das sind nicht die Masern, von denen man sich schnell wieder erholt. Das Zeug tötet in zwei, drei Tagen! Ihr habt es doch selber im Radio gehört!«
»Wir können sie nicht rausschmeißen.«
»Ach, und warum nicht?«
»Weil wir Menschen sind und keine Brüllaffen! Die Starken und Gesunden sind dazu da, die Schwachen und die Kranken zu schützen.«
Antje stand in gebührendem Abstand vor der offenen Autotür und klatschte sich auf die Oberschenkel, wie Affen es tun. »Ja, toll, hab ich auch in der Schule so gelernt. Aber es war nie so. Es war von Anfang an eine Lüge, die sie uns da erzählt haben. Während bei uns Lebensmittel vernichtet wurden, um die Preise stabil zu halten, sind anderswo viele Menschen verhungert. Mehr als eine Milliarde – oder so – hungern angeblich. Und bei uns gibt’s Prämien, wenn man eine Milchkuh abschafft. Als die Bauern die Milch auf die Felder gekippt haben und in die Gullys, weil sie dafür zu niedrige Preise erzielten, glaubst du, da ist einer
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