Todesdämmerung
war ihr Gethsemane. Jesus hatte im Garten von Gethsemane nach dem Bach Kedron die Agonie des Zweifels erdulden müssen. Ihr Gethsemane lag an einem bescheideneren Ort: einem unauffälligen Motel in Soledad, Kalifornien. Aber für sie war dies ein ebenso wichtiger Wendepunkt wie das, was Jesus in jenem Garten erlebt hatte, für Ihn gewesen war. Dies war eine Versuchung. Sie mußte an ihrem Glauben an Gott und an sich selbst festhalten. Sie schlug die Augen auf. Sah wieder in den Spiegel. Sie sah in ihren Augen immer noch den Wahnsinn.
Sie hob den Aschenbecher auf und warf damit nach ihrem Spiegelbild, zerschmetterte den Spiegel. Glas und Zigarettenstummel regneten über Tisch und Boden.
Im gleichen Augenblick fühlte sie sich besser. Der Teufel war in dem Spiegel gewesen. Sie hatte das Glas zerschmettert und damit zugleich den Bann, den der Teufel über die kurze Zeit gehabt hatte. Neues Selbstvertrauen flutete in sie zurück.
Sie hatte eine geheiligte Mission.
Sie durfte nicht versagen.
48
Charlie hielt kurz vor Mitternacht an einem Motel an. Sie bekamen ein Zimmer mit zwei großen Betten. Er und Christine wechselten sich mit Schlafen ab. Obwohl er absolut sicher war, daß man ihnen nicht gefolgt sein konnte, und obwohl er sich jetzt sicherer als in der letzten Nacht fühlte, glaubte er doch, daß immer jemand Wache halten mußte.
Joey schlief unruhig, wachte mehrere Male von Alpträumen auf, fröstelte, hatte Schweißausbrüche. Am Morgen wirkte er blasser als je zuvor und sprach noch weniger als am vergangenen Tag.
Der Regen war in ein leichtes Nieseln übergegangen. Der Himmel hing tief, grau, finster und drohend.
Nach dem Frühstück, als Charlie den Jeep wieder nach Norden wandte, auf Sacramento zu, saß Christine mit dem Jungen auf dem Rücksitz. Sie las ihm aus den Büchern und den Comics vor, die sie gestern gekauft hatten. Er hörte zu, stellte aber keine Fragen, zeigte wenig Interesse, lächelte nie. Sie versuchte ihn für ein Kartenspiel zu interessieren, aber er wollte nicht spielen.
Charlie machte sich zunehmend Sorgen um den Jungen, und seine Enttäuschung und sein Zorn nahmen ebenfalls zu. Er hatte versprochen, sie zu schützen und die Drohung, die von Grace Spivey ausging, von ihnen fernzuhalten. Jetzt war das einzige, was er für sie tun konnte, daß er ihnen bei der Flucht half, den Schwanz zwischen den Beinen eingeklemmt, einer unsicheren Zukunft entgegen.
Selbst Chewbacca wirkte deprimiert. Der Hund lag hinter dem Rücksitz, regte sich nur selten, stand nur einige Male auf, um zu einem der Fenster auf den rußfarbenen Tag hin auszublicken und sich dann wieder einzurollen.
Sie trafen kurz vor zehn Uhr vormittags in Sacramento ein, machten dort einen großen Sportartikelladen ausfindig und kauften eine Menge Dinge, die sie für die Berge brauchen würden: isolierte Schlafsäcke für den Fall, daß das Heizungssystem der Hütte nicht ausreichte, um die Kühlschranktemperaturen des Winters auszugleichen; robuste Stiefel; Skianzüge — weiß für Joey, blau für Christine, grün für Charlie; Handschuhe; getönte Schutzbrillen, um sich vor Schneeblindheit zu schützen; Strickmützen; Schneeschuhe; wettersichere Zündhölzer in wasserdichten Dosen; eine Axt und noch ein Dutzend anderer Dinge. Er kaufte auch eine Remington-Schrotflinte und einen Winchester-AutomatikKarabiner, Modell 100 für 308-Patronen, eine leichte, aber wirksame Waffe; und dazu reichlich Munition.
Er war sicher, daß Grace Spivey sie in den Bergen nicht aufspüren würde.
Völlig sicher.
Aber für alle Fälle...
Nachdem sie bei McDonalds ein frühes und ziemlich hastiges Mittagessen eingenommen hatten, schloß Charlie den elektronischen Detektor an einem Apparat einer Telefonzelle an und rief Henry Rankin an. Die Leitung war nicht angezapft, und Henry hatte nicht viele Neuigkeiten. Die Zeitungen in Orange County und Los Angeles berichteten immer noch von der Kirche des Zwielichts, und die Polizei fahndete immer noch nach Grace Spivey. Die Polizei suchte auch immer noch nach Charlie und fing an, ungeduldig zu werden; langsam verdichtete sich bei ihnen der Verdacht, daß er sich deshalb nicht gestellt hatte, weil er wirklich den Mord begangen hatte, dessentwegen sie ihn befragen wollten. Sie konnten nicht begreifen, daß er ihnen deshalb aus dem Wege ging, weil Grace Spivey möglicherweise Anhänger in der Polizeibehörde haben könnte; sie weigerten sich, eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
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